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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

Die reichsrechtliche Grundlage für die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten bildet das Gesetz vom 30. Juni 1900, das durch zahlreiche reichs- und landesrechtliche Gesetze und Verordnungen ausgeführt und erweitert ist.[1]

Das Reichsgesetz sieht eine Anzeigepflicht vor für jede Erkrankung und jeden Todesfall an Aussatz (Lepra), Cholera (asiatische), Fleckfieber (Flecktyphus), Gelbfieber, Pest (orientalischer Beulenpest), Pocken (Blattern). Ausserdem muss jeder verdächtige Fall unverzüglich angezeigt werden. Der Bundesrat kann die Anzeigepflicht auf andere Krankheiten ausdehnen, dasselbe können und haben die deutschen Einzelstaaten getan. So verlangen z. B. alle Staaten die Anzeige von Diphtheriefällen, einzelne die von Masern-, Lungentuberkulose-, Kindbettfieberfällen usw.[2]

Die Ermittlung der Krankheit erfolgt durch den beamteten Arzt. Es kann auch angeordnet werden, dass alle Leichen vor der Bestattung einer amtlichen Besichtigung unterworfen werden. Die zu ergreifenden Schutzmassregeln bestehen vorwiegend in einer mehr oder weniger weitgehenden Beschränkung des Verkehrs (z. B. Einschränkung der Freizügigkeit, Beobachtung oder Absonderung kranker oder ansteckungsverdächtiger Personen, Beschränkung der Wassernutzung, Einschränkung des Schulunterrichts, Anordnung von Desinfektionen usw.). Eine besondere Stellung nehmen die Geschlechtskrankheiten ein. Eine Anzeigepflicht besteht nicht, dagegen kann ein Behandlungszwang eintreten.[3]

II. Impfung. 1. Geltendes Recht. Das Impfgesetz für das Deutsche Reich vom 8. April 1874 schreibt vor, dass der Impfung[4] mit Schutzpocken unterzogen werden soll jedes Kind vor dem Ablauf des auf sein Geburtsjahr folgenden Kalenderjahres, sofern es nicht nach ärztlichem Zeugnis die natürlichen Blattern überstanden hat, ferner jeder Zögling einer öffentlichen Lehranstalt oder einer Privatschule, innerhalb des Jahres, in dem er das zwölfte Lebensjahr zurücklegt, sofern er nicht nach ärztlichem Zeugnis in den letzten fünf Jahren die natürlichen Blattern überstanden hat oder mit Erfolg geimpft worden ist. Der zuständige Impfarzt entscheidet endgültig darüber, ob der Impfpflichtige ohne Gefahr für sein Leben oder für seine Gesundheit geimpft werden kann. Blieb eine Impfung erfolglos, so muss sie spätestens im nächsten Jahre, und falls sie auch dann erfolglos blieb, im dritten Jahre wiederholt werden. Jeder Impfling muss frühestens am sechsten, spätestens am achten Tage nach der Impfung dem impfenden Arzte vorgestellt werden. Über jede Impfung wird vom Arzte ein Impfschein ausgestellt, worin bescheinigt wird, dass durch die Impfung der gesetzlichen Pflicht genügt ist oder dass die Impfung im nächsten Jahre wiederholt werden muss. Ist die Impfung nicht erfolgt, so muss durch ärztliches Zeugnis bescheinigt werden, aus welchem Grunde und auf wie lange Zeit sie unterbleiben darf. Eltern, Pflegeeltern und Vormünder haben den Nachweis zu führen, dass die Impfung ihrer Kinder und Pflegebefohlenen erfolgt oder aus einem gesetzlichen Grunde unterblieben ist. Die Vorsteher der Schulanstalten, deren Zöglinge dem Impfzwang unterliegen, haben dafür zu sorgen, dass die gesetzliche Impfung rechtzeitig erfolgt. Bestraft werden die Eltern, Pflegeeltern und Vormünder, welche den ihnen obliegenden Nachweis nicht führen, mit einer Geldstrafe bis zu zwanzig Mark, wenn ihre Kinder und Pflegebefohlenen ohne gesetzlichen


  1. Kirchner, Die gesetzlichen Grundlagen der Seuchenbekämpfung im Deutschen Reiche unter besonderer Berücksichtigung Preussens. 1907; Joachim Korn, Deutsches Ärzterecht (1911) 1, 154. – Übersicht über die Materialien und Literatur bei Galli in Stengleins Nebengesetzen 4 (1911) 1, 672; Laband, Staatsrecht 4 3, 254; Meyer-Dochow, Deutsches Verwaltungsrecht 4 § 41 S. 182.
  2. Vgl. Kirchner, Seuchenbekämpfung S. 36 (Tabelle); Meyer-Dochow 4 § 41 S. 183.
  3. Meyer-Dochow 4 § 38 S. 175. Vgl. auch die vorstehenden Ausführungen von v. Lilienthal über Sittlichkeitspolizei. – Preuss. G. vom 28. August 1905 § 9.
  4. Auf die Frage: Worin besteht das Wesen der Impfung? antwortet C. Fränkel, Art. Impfung und Impfrecht, Handwörterb. d. Staatsw. 3 5, 584: Wir können diese lange umstrittene Frage heute mit Bestimmtheit dahin beantworten, dass der höchst wahrscheinlich durch einen niederen tierischen Schmarotzer gebildete Infektionsstoff der echten Pocken bei der absichtlichen oder unabsichtlichen Übertragung auf den zwar empfänglichen, aber doch weniger geeigneten Körper des Tieres, des Rindes, eine sog. Abschwächung erfährt, und dass das in seiner ursprünglichen Kraft geschädigte Material nun bei neuen Individuen doch noch ebenso einen Impfschutz, eine Immunität erzeugt, wie dies Pasteur später beim Schweinerotlauf, beim Milzbrand usw. in unwiderleglicher Weise zu zeigen vermocht hat.
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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 184. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/200&oldid=- (Version vom 3.12.2021)