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vorzugehen sich veranlasst und innerlich verpflichtet fühlt, dass er dann aus dem Dienst dieses Staates oder dieser Kirche ausscheide und nicht als ihr Angestellter und Mandatar, sondern als freier Schriftsteller hinfort sage, was er in diesem Sinn sagen zu müssen für sein Recht und für seine Pflicht hält. So sind diese Konflikte doch grundverschieden von denen zwischen Wissenschaft und katholischer Kirche. Hier kommen sie von innen heraus, nicht von aussen herein, von einer fremden Macht ultra montes; dort hilft Gewissen und guter Wille der Beteiligten, hier hilft auch der beste Wille und der Appell ans Gewissen nichts; darum ist hier das Problem so prinzipiell und so verzweifelt.

Die herkömmliche Weise des akademischen Unterrichts ist die der Vorlesungen – früher wirkliches Vorlesen eines Lehrbuchs oder eines selbstgefertigten Manuskripts, neuerdings immer mehr, und von den Studenten auch so erwartet, in der Form des freien Vortrags. Man hat gegen die Sitte der Vorlesungen allerlei eingewendet: es sei Zeitverschwendung, weil rascher und besser gedruckt gelesen werden könne, was hier unter Umgehung der Vorteile der Buchdruckerkunst mündlich vorgetragen werde; und seitens der Studenten sei das Nachschreiben eine Gedankenlosigkeit und ein Mechanismus ohne vielen Gewinn und Wert. Beides ist falsch. Das erstere, weil die lebendige Rede doch etwas anderes ist und ganz anders wirkt, als der tote Buchstabe des Drucks. Hinter ihr steht eine Persönlichkeit, die sich für das Gesprochene unmittelbar einsetzt und daher ganz anders zum Mitgehen oder zum Widersprechen anregt; und auch das Unfertige und Suchende solcher mündlichen Vorträge, die ja nicht vor dem Spiegel einstudiert zu werden pflegen, lässt die Hörer voll Interesse teilnehmen an der Gedankenarbeit selber. Für diese aber ist die Kunst, das Wesentliche aus dem Vorgetragenen herauszufinden, ein treffliches Bildungsmittel, das durch die vielen Beispiele der Gedankenlosigkeit beim Nachschreiben nicht entwertet wird. Aber Vorlesungen sind nie die einzige Form gewesen. Im Mittelalter kamen die Disputationen hinzu, die die Schlagfertigkeit und Redegewandtheit, freilich auch die Rechthaberei und Streitlust mächtig förderten. Sie sind heute ganz oder fast ganz veraltet und aufgegeben, vielleicht über Gebühr. Dann kamen in der Humanistenzeit die Deklamationen auf, Redeübungen, die dem Bildungsideal jener Zeit, der Gabe der lateinischen eloquentia, dienen sollten. Auch diese Übung ist heute verlassen, und sie mit Recht; schon zur Zeit ihres Bestehens wurden die Reden meist statt von den Studenten selber für sie von den Professoren angefertigt und verfehlten so ihr Ziel. Dafür ist heute bei den Geisteswissenschaften die Mitarbeit der Studenten am Forschen selber in den Seminarien getreten, die Seminararbeit ist die Vorstufe der Doktorarbeit als der ersten selbständigen wissenschaftlichen Leistung des jungen Mannes am Ende seiner Studienzeit. Philologische Seminare hat es lange schon gegeben; dass nun für alle Fächer solche Seminarien und Seminarübungen eingerichtet sind, das ist zuerst an der neugegründeten Strassburger Universität Sitte geworden und hat sich dann rasch überall eingebürgert. Auf naturwissenschaftlicher und medizinischer Seite aber drängte vollends alles auf solche selbständige Forscherarbeit und -mitarbeit hin; in Laboratorien und beim Experimentieren, in Kliniken und Polikliniken, in Krankenhäusern und Operationssälen liegt heute der Hauptnachdruck auf dem Selbersehen nicht nur, sondern auch auf der eigenen Mitbetätigung unserer angehenden Naturforscher und Ärzte. Dabei kann man etwa sagen: in den ersten Semestern überwiege das rezeptive Verhalten in den Vorlesungen, in den späteren Semestern dagegen trete die Selbsttätigkeit immer mehr in den Vordergrund.

Dadurch ergeben sich nicht nur neue Probleme dessen, was man Hochschulpädagogik nennt, ohne dass diese doch als besondere Disziplin aufgefasst werden dürfte; dafür ist der Universitätsunterricht viel zu individuell: es kommen auch Probleme der äusseren Gestaltung des Lehrbetriebs. Georg Kaufmann[1] hat in der übermässigen Ausdehnung der Massenuniversitäten Berlin, München und Leipzig eine Gefahr gefunden, die durch die Worte „Weltuniversität“ und „Provinzialuniversität“ bezeichnet werde. In dem Sinn, wie er es meint – „den Freund der Universitäten beschleicht die Sorge, dass daraus ein Werkzeug des alten Grundsatzes Divide et impera erwachse“ –, kann ich das nicht zugeben, wohl aber deswegen, weil bei diesen Studentenanhäufungen gerade die Mitarbeit und Selbsttätigkeit der jungen Leute wieder in Frage gestellt und illusorisch gemacht wird. In


  1. Universität Breslau. Festschrift zur Feier des hundertjährigen Bestehens. I. Teil, S. 251.
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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 136. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/152&oldid=- (Version vom 21.11.2021)