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ist ihre Wiederbeschäftigung an den Ausweis geknüpft, dass seit ihrer Niederkunft wenigstens 6 Wochen verflossen sind. Mit derartigen Bestimmungen ist indessen die Aufgabe des Mutterschutzes nur in einer Richtung erfüllt. Denn diese Schonung für sich und für ihr Kind muss die eheliche wie die uneheliche Mutter mit dem Verlust des Lohnverdienstes während der Schutzzeit erkaufen, also gerade zu einer Zeit, in der sie im Hinblick auf die erhöhten Aufwendungen, welche die bevorstehende Geburt mit sich bringt, des Verdienstes mehr denn sonst und darüber hinaus oft weiterer Unterstützungen benötigt.

Diese Lage suchen die neuerdings hervorgetretenen Mutterschutzbestrebungen vor allem durch eine möglichst ausgedehnte Mutterschaftsversicherung zu bessern. In gewissem Umfange erscheint letztere bereits in der Arbeiterkrankenversicherung verwirklicht. In Deutschland waren bisher schon die organisierten Kassen (Orts- etc. Krankenkassen), bedingungsweise auch die Hülfskassen, nicht aber die Gemeindekrankenversicherung verpflichtet, ihren weiblichen Pflichtmitgliedern sowie den sich freiwillig weiter Versichernden für 6 Wochen Wöchnerinnenuntersuchung, in Höhe des Krankengeldes, welches ½ bis ¾ des ortsüblichen Tagelohns beträgt, zu zahlen. Auch durften sie mittels Statuts darüber hinaus Schwangeren erforderlichenfalles Schwangerschaftsunterstützung bis zu 6 Wochen, sowie allgemein freie Hebammendienste und ärztliche Behandlung zubilligen. Endlich war ihnen gestattet, den nicht erwerbstätigen Ehefrauen ihrer Mitglieder im Wege der fakultativen Familienversicherung freie ärztliche Behandlung und Arznei, sowie auch ohne Einführung der Familienversicherung die Wöchnerinnenunterstützung zu gewähren. Von dieser Erlaubnis zur Erweiterung der Mutterschaftsversicherung haben indessen die Kassen nur in sehr geringem Masse Gebrauch gemacht.

Diesem Zustande gegenüber wurde auf dem Krankenkassenkongress zu Berlin im Jahre 1909 und ähnlich bei sonstigen Gelegenheiten gefordert:

1. Obligatorische Schwangerenunterstützung im Falle von Erwerbslosigkeit, welche durch Schwangerschaft verursacht ist, auf 8 Wochen.

2. Obligatorische Gewährung freier Hebammendienste und freie ärztliche Behandlung der Schwangerschaftsbeschwerden.

3. Wöchnerinnenunterstützung auf 8 (statt auf 6) Wochen; falls das Kind lebt und die Mutter willens ist es selbst zu stillen, auf 13 Wochen.

4. Erhöhung des Pflegegeldes an Schwangere, Wöchnerinnen und Stillende für die Dauer der Schutzfrist auf die volle Höhe des durchschnittlichen Tagesverdienstes.

5. Ausdehnung der Versicherungspflicht auf alle lohnarbeitenden Frauen, auch landwirtschaftlichen Arbeiterinnen, Dienstboten, Heimarbeiterinnen, sowie alle Frauen, deren Einkommen 3000 M. nicht übersteigt.

6. Obligatorische Ausdehnung der Bestimmungen 2 bis 4 auf die Frauen der Kassenmitglieder.

Anderweitig wurden überdies Gewährung von Stillprämien verlangt, sowie Berechtigung der Kassen, Mittel darzuleihen oder aufzuwenden zur Organisierung eines umfassenden Mutterschutzes, so zur Gründung, Betreibung oder Unterstützung von Beratungsstellen für Mütter, von Schwangeren-, Wöchnerinnen-, Mütter- und Säuglingsheimen, sowie für Aushilfe zur Säuglingsernährung und Gewährung von Hauspflege. Diesen Forderungen liegt die Anschauung zugrunde, dass der Mutterschutz nicht nur um der Mutter, sondern ebensosehr auch um der Säuglinge willen notwendig sei und dass die erschreckend hohe Säuglingssterblichkeit und eine drohende Degeneration der Bevölkerung nur mittels einer Ergänzung des Mutterschutzes durch weitgehende Säuglingsfürsorge wirksam bekämpft werden könne.

Diesen Forderungen hat die Reichsversicherungsordnung vom 19. Juli 1911 lediglich im Hinblick auf die Kostenfrage, nur in bescheidenem Masse Rechnung getragen. Abgesehen von der Ausdehnung der allgemeinen Krankenversicherungspflicht auf alle, auch die landwirtschaftlichen Arbeiter, Gehilfen und Dienstboten sowie Hausgewerbetreibenden und, soweit das Einkommen 2500 M. nicht überschreitet, auch Handlungsgehilfen, Bühnen- und Orchestermitglieder, Lehrer und Erzieher, ist nur die Gewährung des obligatorischen Wochengeldes an weibliche Kassenmitglieder

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 113. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/129&oldid=- (Version vom 19.11.2021)