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denen frühere Zeiten nichts Ähnliches an die Seite zu stellen vermögen, sind zweifellos zum Teil veranlasst und getragen durch die individualistische Geistesrichtung der Zeit, welche die höhere Bewertung der Persönlichkeit schliesslich auch auf das weibliche Geschlecht erstreckte und eine andere Auffassung des Verhältnisses der Geschlechter zu einander herbeiführte. Sie hätten aber in dem Umfange, in dem sie sich vollzogen, nicht eintreten können, wenn sie nicht in der Hauptsache durch eine Umwälzung der wirtschaftlichen Verhältnisse geradezu erzwungen worden wären.

Während seit dem Mittelalter die Verwendung der weiblichen Kräfte im wesentlichen in Land und Stadt auf die meist naturalwirtschaftlich gebundene Hauswirtschaft beschränkt war, im zünftigen Handwerk sogar die weibliche Gewerbsarbeit, soweit sie von früher her hier bestand, im Laufe der Zeit planmässig mehr und mehr sich zurückgedrängt sah, änderte sich die Sachlage mit dem Vordrängen der Manufakturen und Fabriken und ihrer weitgehenden Arbeitszerlegung. Wenigstens auf dem Gebiete der Textilindustrie wurden zuerst im Hause, dann auch in gemeinsamen Arbeitsstätten zunächst Frauen und Mädchen der untersten Klassen in wachsendem Masse gewerblich beschäftigt. Vollends die zuerst in England seit Mitte des 18. Jahrhunderts aufkommende Maschinenverwendung bewirkte eine Zunahme weiblicher Fabrikarbeit, die sich ebenso wie die Kinderarbeit auch ihrer grösseren Billigkeit wegen empfahl. Von dort aus verbreitete sie sich weiter über andere Industriezweige, besonders über den Bergbau. Mit dem Vordringen des modernen Kapitalismus nahm die im 18. Jahrhundert begonnene Entwicklung von England aus im 19. Jahrhundert ihren Weg zu allen modernen Industriestaaten. Unter der anfänglich schrankenlosen Herrschaft einer rein individualistischen Wirtschaftsordnung führte dies zu einer antisozialen rücksichtslosen Ausbeutung der weiblichen Arbeitskräfte. Physische und moralische Degenerierung, und in Verbindung damit eine zunehmende Zerstörung des Familienlebens mit allen ihren verderblichen Wirkungen war die notwendige Folge dieser Zustände. Neben der Fabrikarbeit erhielt und entwickelte sich die gewerbliche Frauenarbeit in der Hausindustrie, welche zwar die Frauen nicht dem Hause, wohl aber der Hauswirtschaft entzog, indem sie dieselben meistens zu mehr und minder gedrückten Löhnen beschäftigte. So bildete sich im Zusammenhange mit der modern städtischen Entwicklung eine neue, meist grossstädtische Hausindustrie, besonders auf dem Gebiete der Konfektion aus, welche der alten ländlichen Hausindustrie zur Seite trat.

Den Schutz der in Industrie und Gewerbe beschäftigten Lohnarbeiterinnen gegen übermässige und sozialschädliche Ausbeutung ihrer Arbeitskraft wurde eine der wichtigsten Aufgaben der Arbeiterschutzgesetzgebung, welche, wie die moderne industrielle Frauenarbeit selbst, von England ihren Ausgang nahm.

Anders als in der Arbeiterklasse entwickelte sich die Frauenarbeit in den mittleren Schichten der Bevölkerung. Immer mehr gewann neben dem vom selbständigen Erwerbe lebenden Bürgertume der auf Gehalt angewiesene öffentliche und private Beamtenstand an Umfang und Bedeutung. Während mit der Ausbreitung der modernen Geldwirtschaft die alte Haus- und Familienwirtschaft mehr und mehr ihres produktiven Inhalts beraubt und auf blosse Konsumwirtschaft beschränkt wurde, verringerte sich in gleichem Masse die Möglichkeit ausser der Hausfrau weitere weibliche Familienglieder nutzbringend zu verwerten. So wurden Frauenkräfte in wachsendem Masse freigesetzt, zumal in diesen Kreisen die Aussichten, in der Ehe Lebensaufgabe und Versorgung zu finden, sich stark verminderten. Bei fehlendem oder unzureichendem Vermögen entstand oft bittere Not. Da aber in den Anschauungen und Sitten dieser Schichten das Ideal der allmählich dahin schwindenden alten und reicheren Hauswirtschaft noch immer fortwirkte, bedurfte es längerer Zeit, bis der Bann gebrochen und die Notwendigkeit, für die Haustöchter Lebensunterhalt und vor allem auch Erwerb im Berufsarbeit ausserhalb des Hauses zu suchen, erkannt und anerkannt wurde. Diese Wandlung der Anschauungen und Sitten herbeigeführt zu haben, ist das dauernde Verdienst der sogen, bürgerlichen Frauenbewegung, welche in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts in England und Deutschland einsetzte. Zugleich wirkte sie hier wie in anderen Ländern mit erfolgreichem Nachdruck nicht nur für eine Erschliessung neuer Berufe, sondern auch für eine Erweiterung und Reform der Frauenbildung behufs Steigerung der weiblichen Erwerbsfähigkeit. In diesen Rahmen gehören auch die schliesslich mit Erfolg gekrönten Bestrebungen, welche auf die Zulassung der

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 109. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/125&oldid=- (Version vom 19.11.2021)