Diverse: Handbuch der Politik – Band 2 | |
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- entziehen, würde eine Zerstörung unserer ganzen jetzigen politischen Organisation sein und würde wahrscheinlich zur Durchführung ein so straffes Anziehen der Zügel verlangen, dass dabei noch andere Güter der Freiheit und Kultur verloren gehen könnten, die nicht allein die Sozialdemokratie angehen.“
Bei dem Zedlitz’schen Volksschulgesetzentwurf redete der Führer der nationalliberalen Partei der Einigung der liberalen Parteien das Wort. Er beklagte, dass es denselben nicht gelungen sei, sich über wirtschaftliche Streitigkeiten wenigstens soweit zu verständigen, dass sie dieses Gebiet für neutral erklären, um im übrigen den gemeinsamen politischen Boden aufrecht erhalten zu können. Er sprach folgende Worte:
- „Es könnten Verhältnisse eintreten in unserer inneren Entwicklung, die es wünschenswert, ja vielleicht notwendig machen werden, dass sich jetzt bekämpfende liberale Gruppen und Männer einander wieder nähertreten aus Gründen gemeinsamer Kämpfe, welche nicht auf materiellem Boden liegen, sondern auf anderen Gebieten, wo es sich um ideale Güter, nicht um materielle Interessen handelt. Es würde das nach meiner Meinung, der ich selbst stets liberal gewesen bin und bleiben will, für die weitere Entwickelung nur förderlich sein. Das liberale Bürgertum in Stadt und Land, die liberalen Anschauungen haben einen Anspruch auf grössere Geltung, als sie zurzeit besitzen.“
Worte, die auch für die heutige Zeit ihre Bedeutung haben.
Wenn je, so ist heute für die nationalliberale Partei Anlass und Notwendigkeit vorhanden, ihre liberalen Grundsätze zu betonen und zur Durchführung zu bringen. Eine tiefgehende Missstimmung geht durch unser Volk. Das Gefühl einer ungerechten Verteilung von Rechten und Pflichten, die Erkenntnis, dass Gewerbe und Industrie, Handwerk und Handel nicht genügend zur Geltung kommen, dringt in immer weitere Kreise und fördert die Radikalisierung unseres Volkes. Hier kann die Partei des gemässigten Liberalismus, wenn sie die berechtigten Forderungen des Volkes aufnimmt und vertritt, sich Vertrauen erwerben und den Abmarsch in das radikale Lager verhindern.
Die nationalliberale Partei bekämpft kraft ihres liberalen Charakters jede einseitige Klassenbewegung einerlei, ob diese ihren Niederschlag in der Sozialdemokratie oder anderweit findet; sie steht im ewigen Kampfe gegen den Ultramontanismus, dessen Weltanschauung dem Liberalismus wesensfremd und feindlich ist. Wie in den romanischen Ländern, so wird auch in Deutschland unbeschadet manches gemeinsamen Arbeitsgebiets der Kampf zwischen Ultramontanismus und Liberalismus bis zum nicht zweifelhaften Siege des letzteren geführt werden müssen.
In wirtschaftlichen Fragen gab die nationalliberale Partei ihren Mitgliedern Meinungsfreiheit. Dabei muss festgestellt werden, dass die Uneinigkeit, die zur Zeit der Heidelberger Erklärung durch die Partei ging und sie lähmte, einer einheitlichen Gesamtauffassung in wirtschaftlichen Fragen Platz gemacht hat. Ohne Fraktionszwang ist seit dem Kampfe um den Zolltarif des Jahres 1902 die Partei in dem Grundsatz des Schutzes der nationalen Arbeit in Industrie, Gewerbe, Handel und Landwirtschaft einig geworden, und wird dieses Wirtschaftsprogramm auch bei der kommenden Zolltarifnovelle und künftigen Handelsverträgen zur Geltung bringen. Diese Einigkeit erhöht die Stosskraft, wie es andererseits für eine grosse Partei eine Notwendigkeit und Selbstverständlichkeit ist, in hochpolitischen Fragen, wie eine solche der Streit um die Erbschaftssteuer, der Kampf um den Block und Bülow war, einig und geschlossen aufzutreten, wenn sie nicht der Lächerlichkeit verfallen will.
Positive staatliche Wirksamkeit war und ist eine Wesenseigenschaft der national-liberalen Partei, wie dies bei der Verabschiedung des Zolltarifs, neuerdings der elsass-lothringischen Verfassungsreform und der Reichsversicherungsordnung, welche beide Gesetze ohne und gegen die nationalliberale Partei nicht zustande kommen konnten, wieder aufs neue erwiesen wurde. Dieser positive Charakter der Partei bewahrt sie vor einer Ueberschätzung des taktischen Momentes in der Politik, während, wie Reichsfinanzreform und die jüngste sogenannte Wahlreform in Preussen erweisen, die liberale Weltanschauung davor
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/46&oldid=- (Version vom 2.9.2021)