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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

Zum Schluss wirft sich von selbst die Frage nach der künftigen Entwicklung auf. Der Wirtschaftspolitiker hat nun nicht zu prophezeien, wohl aber zu zeigen, welche Entwicklungsmöglichkeiten in der Gegenwart liegen und wie ihnen begegnet werden soll. Zunächst muss damit gerechnet werden, dass die industrielle Entwicklung in Hinkunft keine so stürmische sein wird wie bisher, da es sich nicht mehr um ein plötzliches Hervorbrechen der durch widrige äussere Verhältnisse lange zurückgehaltenen Produktivkräfte handelt. Zum Glück ist der Nordländer keine Spielernatur, die Erfolge werden ihn nicht zur Waghalsigkeit berauschen. Das Schlagwort vom „langsameren Tempo“ wird aber gute Dienste tun, wenn es zur Vorsicht mahnt. Weniger zur Vorsicht bei der Beurteilung von neuen Anlagen, die mehr von der jeweiligen Konjunktur abhängen als von der allgemeinen Entwicklung, als vielmehr zur Vorsicht bei der Beurteilung der Produktionskosten, die sich durch die rasche Steigerung der Lebensmittelpreise im Vergleiche zu anderen Ländern erhöhen. Im letzten Dezennium verteuerten sich die Grosshandelspreise in folgender Weise:

Berliner Preis per t in Mark Berliner Preis für 1 dz Schlachtgewicht
Roggen Weizen Rindvieh Schweine Kälber
1900 142.6 151.8 119.1 95.5 132.5
1909 176.4 233.9 131.6 133.3 163.3
1911 168.3 204.0 153.7 91.4 183.3

Die deutsche Landwirtschaft hat den erhöhten Zollschutz ebenso wie die Industrie zu einer intensiven Produktion benutzt, aber in einem Punkte ist das Resultat verschieden: während die Industrie ihre Fabrikate im grossen Durchschnitt billiger abgeben kann, weil die durch Massenerzeugung im spezialisierten Grossbetrieb erzielte Kostenersparnis grösser ist als die Verteuerung durch den Zollschutz, muss die Landwirtschaft ihre Produkte verteuern, weil der Boden beschränkt ist und im Verhältnis zum Mengen-Ertrag immer grössere Aufwendungen erfordert. Man wird nun gewiss nicht in das Gegenteil verfallen und durch einen plötzlichen Abbau der Agrarzölle die Landwirtschaft preisgeben. Man wird sich aber zu der Erkenntnis durchringen müssen, dass die noch sehnsüchtig angestrebte Deckung des Eigenbedarfes für die Landwirtschaft ebenso wenig ein Ideal ist wie für die Industrie. Trotz der riesigen Fortschritte Deutschlands auf industriellem Gebiete ist der Import fremder Fabrikate nicht gefallen, sondern gestiegen, wenn er auch prozentuell im Rahmen des gesamten Aussenhandels an Bedeutung verloren hat. Auch in der Landwirtschaft sollten nicht alle Produkte in gleicher Weise geschützt werden, sondern hauptsächlich jene, bei denen eine Intensivierung durch grösseren Aufwand von Kapital und Arbeit die besten Aussichten eröffnet. Wenn beispielsweise in der Züchtung von hochwertigem Mastvieh eine grössere Leistungsfähigkeit zu erreichen ist, so wäre es verkehrt, den Bezug von Futtermitteln aus dem Auslande (Futtergerste, Mais) übermässig zu erschweren. Industrie und Finanzkapital sind heute mehr denn je in der Lage, die Stätten billiger Arbeitskraft zu suchen und der Preis der menschlichen Arbeitskraft ist abhängig von den Lebensmittelpreisen. Schon heute sehen wir, dass sich der deutsche Unternehmungsgeist über ganz Europa verbreitet und in verschiedenen Ländern zahlreiche Fabriken gründet, die der deutschen Industrie immer schärfere Konkurrenz bereiten werden. Ferner hat Deutschland alle Ursache, zur ungeschmälerten Erhaltung und stetigen Erweiterung seiner Absatzgebiete an einer zielbewussten Handelsvertragspolitik festzuhalten und den allen Tarifvereinbarungen feindlichen Tendenzen entgegenzutreten, welche die Reziprozitätspolitik der Vereinigten Staaten von Amerika und das französische Zollsystem des Maximal- und Minimaltarifs bereits ziemlich erfolgreich propagiert hat. Durch den glücklichen Schachzug der Dezemberverträge von 1891 ist Deutschland zum Mittelpunkt der europäischen Handelspolitik geworden. Es sollte diese Stellung im eigenen Interesse nicht verlieren, sondern durch einen Ausbau dieser Verträge zu Handelsbündnissen mit benachbarten Staaten zu einer noch stärkeren handelspolitischen Kristallisierung den Anstoss geben.

Die Zukunft ist also nicht sorgenfrei, die Vergangenheit aber ermutigend genug, um auch die künftigen Schwierigkeiten nicht als unüberwindlich erscheinen zu lassen; denn man kann sagen, dass Deutschland die Antwort gefunden hat, welche die Nationalökonomie seit Jahrhunderten vergeblich sucht, die Antwort auf die Frage nämlich: Wie wird ein Volk reich?



Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 404. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/420&oldid=- (Version vom 30.10.2021)