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geschrieben und unter dem Titel Industriestaat oder Agrarstaat im Jahrgang 1902 des Mentzel u. Lengerke’schen landwirtschaftlichen Kalenders noch einmal veröffentlicht hat, kommt nach eingehenden Erwägungen zu dem Schlussergebnis, dass in Deutschland, trotzdem sich die landwirtschaftliche Bevölkerung ständig gegenüber dem übrigen Teile der Bevölkerung vermindert, und schon jetzt in die Minorität gedrängt ist, der Gesamtwert der landwirtschaftlichen Produktion, wozu er auch die forstwirtschaftliche rechnet, dem Gesamtwert der industriellen Produktion mit ca. 8 Milliarden Mark noch gleichsteht, wie er denn auch für die Landwirtschaft berechnet, dass sie an dem zu ca. 150 Milliarden geschätzten Gesamtnationalvermögen zur Hälfte beteiligt sei. Mit diesen Zahlen, die auch jetzt noch trotz der starken Steigerung der beiderseitigen absoluten Zahlen für das Verhältnis der betreffenden Werte zueinander zutreffend sein dürften, ist aber die Bedeutung der Landwirtschaft im Wirtschaftsleben nicht erschöpft, selbst wenn sie ungünstiger für die Landwirtschaft ständen, bliebe die grundlegende Wichtigkeit des landwirtschaftlichen Betriebes für die nationale Existenz ungeschwächt bestehen. Denn die Sicherheit der Selbständigkeit einer Kation beruht zu einem grossen Teile darauf, dass ihre Landwirtschaft einen möglichst grossen Anteil der für die Gesamtbevölkerung erforderlichen Nahrungsmittel selbst produziert und damit die Unabhängigkeit vom Auslande gewährleistet. In Deutschland ist die Lage augenblicklich so, dass es nur einer verhältnismässig geringen Steigerung der Ernte der Hauptfrüchte pro Hekt. bedürfte, um das ganze Inlandsbedürfnis nicht nur an Nahrungsmitteln sondern auch für die vielfachen anderen Verwendungszwecke landwirtschaftlicher Erzeugnisse zu decken, und auch bei steigender Bevölkerung könnte dies Ziel noch längere Jahre erreicht werden, wenn der gesamte Grund und Boden entsprechend intensiv benutzt würde. Man kann auch nicht einwenden, dass solch eine intensive Benutzung nur mit bedeutend erhöhten Betriebskosten möglich sein werde und dass das Gesetz des sinkenden Reinertrags in Wirksamkeit treten und den ganzen Nutzen aufzehren werde. Abgesehen davon, dass der politische Wert der Unabhängigkeit vom Auslande die aufzuwendenden Mehrkosten wenigstens teilweise kompensieren könnte, liegt auch die Wirksamkeit des genannten Gesetzes noch in weiter Ferne solange wie wir in der Lage sind, Mehrerträge in bedeutendem Masse nicht durch Erhöhung des Betriebsaufwands sondern nur durch eine rationellere Kultur d. h. durch eine bessere Ausnutzung der Naturkräfte herbeizuführen. Und selbst wenn wir für besseres Saatgut und stärkere Anwendung von künstlichem Dünger sowie für intensivere Unkrautvertilgung vermehrte Mittel aufwenden, so werden diese Mehraufwendungen noch weithin den Reinertrag nur günstig beeinflussen, da alle übrigen Wirtschaftsausgaben für Verzinsung des Anlagekapitals und Inventars, Bestellung und Ernte ziemlich dieselben bleiben bei gutem wie bei schlechten Ernten. Wenn z. B. in den höchst intensiv betriebenen Zuckerrübenwirtschaften der Provinz Sachsen die Ausgaben für künstlichen Dünger nur ca. 7% der Gesamtausgaben betragen so wird man nicht behaupten können, dass die vermehrte Anwendung dieses Hauptförderungsmittels besserer Ernten in den Wirtschaften – und das dürfte die Mehrzahl sein –, in welchen hiervon jetzt nur ein sehr geringer oder gar kein Gebrauch gemacht wird, auf den Reinertrag einen ungünstigen Einfluss ausüben werde. Rechnet man noch hinzu, dass die Sicherheit der Ernten mit der intensiven Kultur steigt, so liegt das allgemeine Interesse auf der Hand, welches der Staat an der Hebung des landwirtschaftlichen Betriebes haben muss. Die Schwankungen der Werte der Gesamternten belaufen sich jetzt in Deutschland auf Milliarden, ein Mehrertrag pro Hekt. von nur 1 M. macht im ganzen schon ca. ½ Milliarde aus und erhöht entsprechend die Kaufkraft der landw. Bevölkerung, was in der Hauptsache der Industrie zugute kommt, man sollte also annehmen dass für jede Regierung keine dringlichere Aufgabe vorliege als mit allen Mitteln auf die Förderung des landw. Betriebes einzuwirken. Das ist nun eigentümlicherweise nicht der Fall gewesen, man hat im Gegenteil die Landwirtschaft lange Jahre sich selbst überlassen und die staatliche Fürsorge wesentlich dem Handel und der Industrie zugewandt. Als Zeugnis hierfür kann man u. a. auch die Preussische Nationalhymne anführen, in welcher die Hebung von Handel und Wissenschaft dem Regenten als Ruhm angerechnet wird, von der Landwirtschaft aber gar nicht die Rede ist, obgleich sie einer besonderen Förderung viel mehr bedarf, da sie von dem Stachel der Konkurrenz längst nicht in dem Masse berührt wird, wie die Industrie und daher viel eher geneigt ist auf einem bequemeren Beharrungszustand

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 358. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/374&oldid=- (Version vom 16.10.2021)