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der Völker. Obwohl es heute nicht mehr wie früher zutreffend ist, dass der Handel die Wege geht, auf denen ihm die Flagge voraufgegangen ist, ist doch nicht zu bezweifeln, dass die regelmässige Beförderungsmöglichkeit, die die deutsche Flagge dem deutschen Überseehandel geboten hat, auf ihn stark anregend gewirkt hat. Rückschliessend kann man das auch aus den grossen Opfern entnehmen, die unsere Reedereien in den Jahren ihrer Entwicklung bringen mussten – kaum eine der grösseren deutschen Reedereien ist in ihrer Jugend ohne Kapitalszusammenlegung davongekommen. Aber auch direkt schafft die Reederei für das Nationaleinkommen neue Werte, indem sie nämlich über den Anteil des eigenen Volkes am Weltverkehr hinaus an diesem teilnimmt. Nicht alle Länder sind in der Lage, die Anforderungen zu erfüllen, die der Schiffahrtsbetrieb auf der höchsten Stufe seiner jeweiligen Entwicklung stellt; es gehört dazu ein hoher Stand der Technik, Disziplin und Kultur. Darum sind immer einige Länder führend in der Schiffahrt gewesen, an ihrem Beispiel haben sich andere gebildet. Das gilt auch von der deutschen Schiffahrt, deren Vorbild England war, das bis in das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts hinein in der Vermittlung des deutschen Seeverkehrs eine massgebende Rolle spielte. Das hat sich seither vollständig geändert; was die englische Flagge im deutschen Seeverkehr heute noch deckt, ist der Verkehr mit England selbst, ausserdem ein Teil der Einfuhr von Massengütern von Übersee, soweit sie mit sogenannten „Trampdampfern“ erfolgt.

Zur Erläuterung dieses Ausdrucks ist zu bemerken, dass der Warenverkehr über See, soweit es ein einigermassen regelmässiger Verkehr ist, durch die Schiffahrtslinien besorgt wird, die ihre Schiffe in regelmässigen Zeiträumen abfahren lassen. Soweit er aber infolge von Ernten oder anderen Verhältnissen (z. B. Schluss der Ostsee durch Eis im Winter) sich auf begrenzte Zeiträume zusammendrängt oder nur einseitig gerichtet ist (die Kohlenausfuhr von England; die Schiffe, die sie befördern, müssen am Bestimmungsorte oder anderswo sich eine Rückfracht suchen) wird er von Dampfern besorgt, die nicht regelmässig, sondern „in wilder Fahrt“ laufen (englisch „tramp steamers“). In diesem letzteren Gewerbe hat England eine vollkommene Vorherrschaft, die ihm nur bestritten werden könnte, wenn seine grosse Kohlenausfuhr, die sogar die vornehmste Grundlage der Existenz für die Trampschiffahrt aller Flaggen bildet, aufhören würde oder auch diese zum überwiegenden Teile in die Hände regelmässiger Linien überginge. Beides steht vorläufig nicht in Aussicht. Trotzdem hat sich die Stellung von regelmässigen Linien und Trampschiffahrt zu einander in England doch so verschoben, dass, während man früher etwa zwei Drittel der englischen Handelsflotte als zur Trampschiffahrt gehörig ansah, dieser Teil heute auf erheblich unter die Hälfte heruntergegangen ist.

In der freien Konkurrenz, die in der „wilden Fahrt“ herrscht, hat der Trampdampfer den Segler verdrängt, und dem ersteren wieder macht in dem Transport von Massengütern der Liniendampfer wachsende Konkurrenz. Er ist häufig technisch leistungsfähiger, unter Umständen in der Assekuranzprämie billiger, deshalb dem Verlader lieber, dem er auch Gelegenheit zur Beförderung kleinerer Mengen gibt, während der Trampdampfer nur für grössere Mengen, volle Ladungen, in Betracht kommt. Völlig und anscheinend dauernd in den Hintergrund getreten ist die grosse Segelschiffahrt in der Hauptsache dadurch, dass die technische Entwicklung der Dampfschiffahrt das durchschnittliche Niveau der Frachtsätze so heruntergedrückt hat, dass die Segelschiffe eine auskömmliche Rentabilität nur in Zeiten hoher Frachten noch finden. Kleine Segler finden in der letzten Zeit in zunehmender Menge lohnende Beschäftigung in der nordeuropäischen Küstenfahrt, aber zumeist unter skandinavischer, holländischer oder russischer Flagge, weil unter dieser infolge niedrigerer Löhne und fehlender sozialpolitischer Lasten die Betriebskosten geringer sind als unter deutscher oder englischer Flagge. Diese Differenz in den Betriebskosten ist auch der Grund dafür, dass Norwegen zahlreiche von englischen Reedern wegen ungenügender Rentabilität verkaufte Segelschiffe aufgekauft hat. Auch in der Dampfschiffahrt macht sich übrigens der Unterschied in den Betriebskosten fühlbar. (Vergl. Huldermann, Seeschiffahrt und Welthandel, S. 20). Diese Entwicklung in der grossen sowohl wie der kleinen Segelschiffahrt ist insofern bedauerlich, als die Erhaltung der Segelschiffahrt in einem gewissen Umfange im Interesse der guten Ausbildung des seemännischen Personals, namentlich des Offizierspersonals, sehr erwünscht wäre. Einen Ersatz für den Ausfall an Segelschiffen bemüht man sich durch die Einstellung von Schulschiffen zu schaffen, auf denen künftige Offiziere wie auch neuerdings Matrosen ausgebildet werden.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 290. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/306&oldid=- (Version vom 3.10.2021)