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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

So ist z. B. im englisch-indischen Verkehr der Wasserweg für Güter für die ganze Strecke London–Gibraltar–Suez–Bombay das Gegebene, für Personen und die Post ist dagegen der Eisenbahnweg London–Brindisi oder London–Marseille (Genua, Neapel) dem Wasserweg überlegen.

Im allgemeinen lässt sich sagen, dass von Wettbewerb für folgende Fälle nicht die Rede ist, weil eine grundsätzliche Überlegenheit des einen Verkehrsmittels über das andere besteht:

1. Wo Seeschiffahrt möglich ist, scheidet der Eisenbahnverkehr aus. Dies gilt also für das Meer, die grossen Strommündungen und die Seekanäle. Oft ergänzt hier allerdings die Eisenbahn den Wasserweg (vgl. Eisenbahn London-Brindisi, Sibirische Bahn, Suezkanalbahn, Eisenbahn Bremen-Bremerhaven, Hamburg-Cuxhafen).
2. In der Binnenschiffahrt sind die grossen von Natur gutschiffbaren Ströme und die Binnenseen im Verkehr geringwertiger Güter der Eisenbahn überlegen.
3. Die Eisenbahn kann kleinen Flüssen und Kanälen mit kleinen Abmessungen selbst für Massengüter überlegen sein.
4. Die Eisenbahn ist für Personen,[1] hochwertige und schnell zu befördernde Güter dem Wasserweg überlegen.

Demgemäss müssen die Fälle, in denen Wettbewerb eintreten kann, in den unter 2 und 3 erwähnten Gruppen liegen; und es kommt darauf an, wo im einzelnen Fall die Grenze liegt. Am wichtigsten sind dabei die Binnenkanäle und die Flusskorrektionen, denn auf diese konzentriert sich zurzeit das Interesse.

In der Hauptsache läuft die ganze Frage darauf hinaus, auf welchem Weg billiger befördert werden kann; es muss eben das immer wieder kehrende Grundgesetz der Wirtschaftlichkeit erfüllt werden vom Aufwand der kleinsten Mittel zur Erzielung des Zwecks.

Hier ist nun bezüglich der Wettbewerbfähigkeit der Binnenwasserstrassen eine gewisse Verwilderung der Begriffe eingetreten. Die Kanalfreunde schliessen nämlich: Auf den Eisenbahnen bestehen für Massengüter gewisse Tarife und auf dem Wasserweg würden die Selbstkosten unter diesen Tarifen bleiben. Hierin ist zunächst falsch, dass man Tarif und Selbstkosten mit einander vergleicht, und ausserdem werden sehr oft von den Selbstkosten der Wasserstrassen gewisse Teile fortgelassen.

Einem derartigen fehlerhaften Vergleich gegenüber ist die Vergleichende Berechnung nach folgenden Grundsätzen aufzustellen:

Es müssen für jede Vergleichsstrecke die Gesamt-Selbstkosten beider Verkehrsmittel mit einander verglichen werden; und nur wenn der Wasserweg beträchtlich billiger ist, ist er der Eisenbahn vorzuziehen; bei gleichen Selbstkosten ist der Wasserweg dagegen auszuschalten, weil die Eisenbahn noch andere in Zahlen kaum ausdrückbare Vorzüge (Pünktlichkeit, Schnelligkeit, Unabhängigkeit, Verzweigungsfähigkeit) besitzt.[2]

Als Selbstkosten sind die gesamten Kosten zu rechnen, also: Verzinsung des Anlagekapitals (z. B. einer Flussverbesserung, soweit sie der Schiffahrt zugute kommt), Unterhaltung aller Anlagen und Einrichtungen, Abschreibungen, Tilgungsquoten, Betriebs- und Verwaltungskosten.

Um zu zeigen, wie die Rechnungen häufig entstellt werden, sei auf folgendes aufmerksam gemacht:

Man verwechselt bei der Eisenbahn (zu ihren Ungunsten) den Tarif mit den Selbstkosten und begeht dabei folgende Schnitzer: man vergisst, dass sich die Eisenbahn vielfach höher verzinst als der landesübliche Zinsfuss beträgt, das folgt eben daraus, dass grade für die für den Vergleich wichtigen Massengüter die Tarife höher sind als die Selbstkosten (einschl. landesüblicher Verzinsung); ferner wird aus den Überschüssen der „guten“ Strecken die Unterbilanz der unrentabeln Strecken (Nebenbahnen) gedeckt, die „guten“ Strecken kommen aber gerade für den Vergleich mit dem Wasserweg in Betracht. Sodann vergleicht man die Bahnen, wie sie jetzt vorhanden sind, mit einem zu bauenden Kanal; man darf aber nur einem bestimmten Kanal für Massengüter eine ihm etwa parallel verlaufende Bahn gegenüberstellen, die für die Beförderung von Massengütern besonders eingerichtet ist.

Ausserdem müssen die Eisenbahnen in Deutschland sehr hohe Geschenke an die Reichspost leisten.

In diesem Sinn hat die Schrift von Cauer-Rathenau über Massengüterbahnen aufklärend gewirkt. Gegenüber diesen häufig anzutreffenden für die Eisenbahn zu ungünstigen Berechnungen findet man dagegen vielfach, dass von den Wasserfreunden gewisse Selbstkosten des Wasserwegs fortgelassen werden. Gestützt auf den früheren Wortlaut der Reichsverfassung werden z. B. die Kosten für Flussverbesserungen (also Verzinsung, Abschreibung, Unterhaltung, Tilgung) überhaupt nicht berechnet, ferner vergisst man nicht selten die Kosten für die Umladung


  1. Der Vergnügungsverkehr kann hier ausser Betracht bleiben, weil er eine sehr bescheidene Rolle spielt.
  2. Es gibt Eisenbahnfanatiker, die wegen dieser Vorzüge der Eisenbahn den künstlichen Binnenwasserstrassen einen Wert überhaupt absprechen.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 287. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/303&oldid=- (Version vom 2.10.2021)