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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

Bei Beurteilung des Wertes des Schiffahrtsweges zum Bodensee ist es von Bedeutung, dass derselbe mit der Stromstrecke zusammenfällt, welche die grössten in Mitteleuropa vorhandenen Wasserkräfte liefern kann, deren Wert durch die regulierbaren Wasserkräfte der Alpen- und Schwarzwaldflüsse noch erhöht wird. Diese Wasserkräfte werden jenen Gegenden ganz zweifellos einen gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung bringen, der auch dem neuen Verkehrsweg zugute kommen muss. Die geplante Regulierung des Abflusses des Bodensees wird in gleicher Weise den Kraftwerken am Oberrhein, wie der Rheinwasserstrasse und zwar dieser abwärts bis zu den Niederlanden von Nutzen sein.

Allerdings darf bei der Beurteilung der Aussichten des Schiffahrtsweges zum Bodensee auch nicht übersehen werden, dass der Verwirklichung dieser Wasserstrasse erhebliche Schwierigkeiten entgegenstehen, die in der Hauptsache politischer Art sind, insofern die Aufteilung der Interessenten für diesen Verkehrsweg auf eine grössere Zahl von Staaten die Regelung der Kostenfrage und die einheitliche und schnelle Projektierung und Ausführung erschwert. Auch der Umstand, dass in den beteiligten Gebieten noch keine an ein längeres Netz angeschlossene Wasserstrassen vorhanden sind, und daher die Beteiligten erst durch eine langwierige und zeitraubende Aufklärungsarbeit von den ihnen aus der Rheinwasserstrasse erwachsenden Vorteilen überzeugt und zu Opfern bereit gemacht werden müssen, sowie die Befürchtungen der Eisenbahnverwaltungen auf Minderung ihrer Einnahmen stehen der schnellen Verwirklichung dieser Wasserstrasse entgegen.

Wenn durch den Ausbau des Rheinschiffahrtsweges von Strassburg nach Basel und von hier weiter zum Bodensee das Bedürfnis der südwestlichen Teile Süddeutschlands nach einer leistungsfähigen und billigen Verbindung mit dem Unterrhein und dem Meere auch im wesentlichen befriedigt werden würde, so ist dies für die mittleren und östlichen Teile Süddeutschlands nicht in gleichem Mass der Fall.

Die Königreiche Württemberg und Bayern sind daher seit langem bestrebt, sich eigene Wasserverbindungen aus ihren industriereichsten Gebieten zum Rhein hin zu schaffen, da sie befürchten müssen, ohne leistungsfähige Wasserstrassen auf die Dauer den Wettbewerb mit den von schiffbaren Strömen bezw. Kanälen durchzogenen Gebieten nicht aushalten zu können. Vor allem hat die Tatsache, dass die Bevölkerung dieser Länder weit schwächer angewachsen ist, als diejenige der an grossen Strömen gelegenen Teile Deutschlands, und dass die grossen industriellen Gesellschaften ihre Werke vielfach nach auswärts verlegt haben, den Wunsch nach leistungsfähigen Verkehrswegen, namentlich nach Wasserverbindungen zum Rhein hin, lebhaft hervortreten lassen.

Was Württemberg anbetrifft, so wird dasselbe zurzeit über Mannheim und Karlsruhe mit Kohlen und Eisen vom Unterrhein und mit überseeischen Waren – namentlich Getreide, Mehl und Petroleum – hauptsächlich mit der Bahn und nur zu einem kleinen Bruchteil von Mannheim aus auf dem Neckar versorgt. Der Neckar, der einzige schiffbare Fluss Württembergs, genügt eben keineswegs den an einen neuzeitlichen Wasserweg zu stellenden Anforderungen, da er nur für kleine Fahrzeuge schiffbar ist und bei seiner stark schwankenden Wasserführung oft monatelang vollständig versagt.

Nach reiflicher Prüfung der Frage ist durch die württembergische und badische Baubehörden in letzter Zeit ein Entwurf ausgearbeitet worden, der die Kanalisierung des Neckars von Mannheim bis Heilbronn auf eine Länge von 117,5 km für 1000 Tonnen-Schiffe vorsieht, wozu 17 Staustufen in den Fluss eingebaut werden sollen. Der Entwurf wird demnächst den Regierungen der 3 Uferstaaten Württemberg, Baden und Hessen zur Genehmigung vorgelegt werden und ist in einer amtlichen Denkschrift im Dezember 1910 bereits in seinen wesentlichen Grundlagen veröffentlicht worden. Die Baukosten sind auf 33 270 000 M. berechnet, zu denen für die Errichtung der an den Staustufen vorgesehenen Kraftwerke und für Hafenanlagen in Heilbronn noch rund 16 Millionen Mark hinzukommen. Schon für die Zeit kurz nach Eröffnung der Wasserstrasse wird auf einen Verkehr von über 3 Millionen Tonnen gerechnet. Vor allem soll die in bedrängter Lage befindliche württembergische Industrie durch Verbilligung des Bezugs von Kohlen, Eisen und anderen Rohstoffen und durch die Verbesserung des Absatzes der Erzeugnisse des heimischen Gewerbefleisses aus diesem Schiffahrtsweg Nutzen ziehen. Man hofft durch die Kanalisierung des Neckars das Abwandern der vorhandenen Betriebe verhindern und neue Industrien heranziehen zu können.

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 282. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/298&oldid=- (Version vom 2.10.2021)