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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

Die Notwendigkeit der Schaffung einer Zentralinstanz zur Wahrnehmung der Aufsichtsrechte des Reiches über die Eisenbahnen führte zur Einrichtung des Reichseisenbahnamtes durch das Gesetz v. 27. Juni 1873. Wurde somit die Grundlage dazu gelegt, ein einheitliches Reichseisenbahnnetz herzustellen, so ist es doch dazu nicht gekommen. Abgesehen von den im Reichseigentum stehenden Reichseisenbahnen in Elsass-Lothringen und der Militärbahn Berlin-Jüterbog gibt es im Reiche keine Reichseisenbahnen. Die Bestrebungen nach Vereinheitlichung der Eisenbahnen im deutschen Reiche scheiterten an dem Widerstande der süddeutschen Staaten. Das preussische Gesetz vom 4. Juni 1876, das den Übergang des Eigentums und der sonstigen Rechte des Staates an den Eisenbahnen auf das Reich vorsah, erlangte keine praktische Bedeutung. Wohl aber setzte nunmehr – zunächst in Sachsen und Bayern, seit 1879 auch in Preussen eine umfangreiche Verstaatlichungsaktion ein. Diese hat zu dem Ergebnis geführt, dass die Privatbahnen des grossen Verkehrs fast ganz verschwunden sind. Auch die Nebenbahnen sind überwiegend im Staatseigentum. Nur die Kleinbahnen – die weder dem Reichsrecht noch dem preussischen Eisenbahngesetze unterliegen, – sind überwiegend im Privatbetriebe. Aber auch bei dieser Klasse von Bahnen tritt ein der Verstaatlichung analoger Prozess durch das Bestreben umfangreicher Inkommunalisierungen der für den Ortsverkehr wichtigen Bahnen hervor. Die gegenwärtige Bedeutung des Staatsbahnnetzes gegenüber den Privatbahnen ergibt die Reichsstatistik. Danach waren Ende 1911 vorhanden Hauptbahnen im Staatseigentum einschliesslich der wenigen Bahnen im Privateigentum aber im Staatsbetriebe: im ganzen Reiche: 33 992,8 km (gegen 31 073,3 km im Jahre 1901) dagegen an Privatbahnen: 276,9 km (gegen 1313,3 km im Jahre 1901). Nebenbahnen als Staatsbahnen gab es 22 102 km (1901: 15 532,8 km), Privatnebenbahnen: 3391,5 (1901: 3120,8) km. Von den Hauptbahnen entfielen auf Preussen-Hessen an Staatsbahnen 23 472,9 km, auf Bayern 4796,6 km, auf Sachsen 1779,3 km, auf Württemberg 1466,5 km, auf Baden 1546,7 km, auf Mecklenburg-Schwerin 493,6 km, auf Mecklenburg-Strelitz 150,8 km, auf Oldenburg 286,4 km, auf Elsass-Lothringen 1355,6 km. Private Vollbahnen gibt es nur in den preussischen Provinzen Schleswig-Holstein, Hannover und Rheinprovinz, in ganz geringem Umfange in Bayern (6 km) ferner in Baden, Oldenburg, Lübeck und Hamburg. Die finanzielle Bedeutung des Staatsbahnbesitzes kommt in der Höhe des Anlagekapitals zum Ausdruck, das Ende 1911: 17 833 Millionen Mark betrug.

Die Streitfrage: Staats- oder Privatbahnen? ist durch die eben skizzierte Entwickelung für Deutschland im Sinne der ersten Alternative entschieden. Wenn man die Fortschritte des Eisenbahnwesens in Deutschland vom technischen, volkswirtschaftlichen und finanziellen Standpunkt aus betrachtet, so kann diese Entwicklung als ein grosser Erfolg einer weisen Eisenbahnpolitik bezeichnet werden. Die Kritik, die namentlich Lord Avebury in seinem Werk: „Staat und Stadt als Betriebsunternehmer“ an dem kontinentalen Staatseisenbahnsystem übt, ist wenigstens, was Deutschland anbetrifft, durchaus nicht als berechtigt anzuerkennen. Wenn auch in den Ausführungen Lord Aveburys über die Nachteile der Staatsverwaltung der Bahnen gewisse Wahrheiten liegen, (vgl. namentlich S. 122, 123 Einfluss sonderpolitischer Bestrebungen), so ist doch das Urteil, „dass die staatliche Verwaltung der Eisenbahnen ein grosses Unglück für den Kontinent“ gewesen ist, durch die Entwicklung wenigstens für Deutschland vollständig widerlegt. Jedenfalls sind die Ausführungen Lord Aveburys, der die technischen Mängel der deutschen Bahnen gegenüber den englischen und amerikanischen hervorhebt, in keiner Hinsicht begründet (vgl. über die Staatsbahnfrage v. Schönberg, Handbuch I S. 564 Sax Verkehrsmittel II S. 143 ff., Wehrmann, Die Verwaltung der Eisenbahnen, Berlin 1913 und Eisenb. Arch. 1913, S. 1).

§ 2. Das Eisenbahnwesen eines Staates kann die ihm obliegenden Aufgaben nicht erfüllen und den Staatsinteressen keinen Nutzen bringen, wenn es nicht innerhalb des einheitlichen Wirtschafts- und politischen Gebietes im Sinne des Verkehrs eine Einheit bildet. Aufgabe der Eisenbahnpolitik jedes Staates ist es daher, sein Bahnnetz, mag es sich um Staats- oder Privatbahnen handeln, zu einem einheitlichen Netz zu gestalten. Diese Einheit ist am vollkommenen in den Staaten, die nur Staatsbahnen betreiben. Ist diese materielle und formelle Einheit nicht herzustellen, so muss wenigstens die materielle Einheit durch entsprechende Ausübung des Eisenbahnhoheitsrechtes des Staates hergestellt werden. Im deutschen Reich mangelt es trotz des Überwiegens der Staatsbahnen an einer formellen Einheit, weil das deutsche Reich, obgleich nach aussen und wirtschaftlich ein

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 263. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/279&oldid=- (Version vom 26.9.2021)