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kann dem Staate die Mittel für seine neuzeitigen Aufgaben nicht geben, da der Rentabilität des landwirtschaftlichen Betriebes durch das schon erwähnte Gesetz des abnehmenden Bodenertrages und die Länge der Betriebsperioden bestimmte Grenzen gezogen sind, über die hinaus das hineingesteckte Kapital im umgekehrten Verhältnis zum Ertrage steht. Ganz anders in der Stoffverarbeitung, deren Ausdehnung – die Absatzmöglichkeit vorausgesetzt – an keine Grenzen gebunden ist und deren Rentabilität, wie schon erörtert, sich nicht bloss im Verhältnis zum Betriebsumfang bewegt, sondern dessen Ausdehnung progressiv übersteigt. Industrielle Tätigkeit ermöglicht häufigeren Kapitalumschlag, schafft höheres Einkommen und führt schneller zur Kapitalbildung als landwirtschaftliche Arbeit. Als Steuerquelle ist demnach die Industrie, wie jedermann weiss, der Landwirtschaft überlegen – für den Geld suchenden Staat eine sehr beachtenswerte Tatsache.

Je grösser der Spannrahmen industrieller Tätigkeit durch Erweiterung des Anteils am Weltmarkt gezogen wird, um so reichlicher auch die Einnahmen des Staates, von denen wieder die Intensität seiner kulturellen Wirksamkeit und der politisch-militärische Aufwand abhängig sind. Dazu kommt schliesslich noch, dass mit der industriellen Tätigkeit sich der Handel verbindet, der volkswirtschaftlich betrachtet, die grössten Werte schafft, wenn er international betrieben wird, und von diesem Standpunkt den heimischen Wohlstand in dem Masse fördert, als er seinen Anteil am Welthandel ausdehnt. Dasselbe gilt vom Bankwesen und besonders der Schiffahrt, Erwerbszweige, die unsere Zahlungsbilanz um so günstiger beeinflussen, je weltumspannender sie sind.

Kehren wir zum Ausgangspunkt zurück, so ergibt sich ohne weiteres, dass Deutschland vermöge seiner ideellen und materiellen Entwicklungsbedingungen sich in der Tat mehr und mehr in die Weltwirtschaft verknüpft sieht; wir brauchen Spielraum für den Absatz unserer Produkte auf dem Weltmarkt. Wir müssen uns aber anderseits auch den Bezug von Rohmaterialien sichern, die zum Teil die Grundlage eben dieses unseres Exports sind. Daraus ergibt sich: Waren wir früher ein Volk, dessen Interessen in wesentlichen in Europa lauen, so werden wir heute in die Weltwirtschaft und damit in die Weltpolitik gedrängt. Dies scheint mir eines der wesentlichsten Ergebnisse neudeutscher Entwicklung zu sein.

Weltpolitik und Wirtschaftspolitik! Man kann sich des Eindrucks nicht recht erwehren, dass heute über die letzten Triebkräfte unseres Eingreifens in die Händel dieser Welt immer noch ganz falsche Meinungen verbreitet sind. Historiker alter Schule lehren uns auf dem Boden rein idealistischer Geschichtsauffassung sogar, dass die moderne Weltpolitik nichts anderes sei, als Fortführung jenes Imperialismus, den es zu allen Zeiten gegeben habe. Und doch besteht gerade im Hinblick auf die letzten Triebkräfte zwischen dem Imperialismus alter Zeit und moderner Weltpolitik ein gewaltiger Unterschied.

Eine Art weltwirtschaftlicher Expansion sehen wir freilich seit Jahrtausenden. Man kann fast sagen: in jedem Reiche der Geschichte macht er sich geltend. Imperien erhoben sich auf dem Boden der vier arischen Welten und auf dem der chinesischen Welt. Das erste Imperium der Geschichte war das der Achämeniden, das zweite Alexanders, das dritte Rom. Das römische Reich in seiner gewaltigen Ausdehnung zeigt uns so recht, was man in jener Zeit unter Imperialismus ausschliesslich verstand: Nicht mehr und nicht weniger als die politische Weltherrschaft. Von Gajus Grachus und Sulla begründet, von Cäsar und Augustus ausgebaut, beherrschte das römische Kaisertum die damalige eigentliche Kulturwelt. Die politische Herrschaft war der Sinn der imperialistischen Idee im Altertum.

Und so auch später. Der Universalismus des mittelalterlichen Kaisertums: Was war er anders als der Inbegriff politischer Machtausdehnung – was anders war die Weltpolitik des mittelalterlichen Papsttums mit seiner ungeheuren Machtfülle! Ja, selbst die Politik Napoleons I. war im gewissen Sinne ein Kampf um die Weltherrschaft, oder zum mindesten um die politische Vormachtstellung in der Welt.

Von diesem Imperialismus der Vergangenheit unterscheidet sich die moderne Weltpolitik ganz gewaltig. Und zwar sowohl im Hinblick auf Art und Wesen, wie Triebkräfte. Der Imperialismus alter Zeit war Zäsarismus, d. h. in seiner praktischen Gestaltung abhängig vom persönlichen

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 257. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/273&oldid=- (Version vom 25.9.2021)