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und Schrift aufgezeigt haben: Friedrich List, Nebenius und Hoffmann. In der von ihnen gedachten Weise ist sie dann seit 1828 zustande gekommen. Doch die Geschichte des deutschen Zollvereins ist zu bekannt und zu sehr Bestandteil der politischen Geschichte Deutschlands, als dass sie hier gegeben zu werden brauchte. Nur darauf sei noch hingewiesen, wie in diesem Zollverein der preussische, relativ „freihändlerische“, Tarif von 1818 zunächst akzeptiert wurde, und dadurch mit den im Interesse ihrer Industrie, namentlich der Textilindustrie, mehr „schutzzöllnerischen“ süddeutschen Staaten von Anfang an Schwierigkeiten entstanden, die zu einem mehrmaligen Wechsel zwischen etwas höheren und etwas niedrigeren Zollsätzen führten; wie dann Preussen in einem Augenblick der Erschlaffung den Handelsvertrag von 1859 mit Österreich schloss, der den Eintritt des letzteren in den Zollverein vorbereitete und damit das Ziel der ganzen preussischen Politik preiszugeben drohte. Da kam der Umschwung in der europäischen Handelspolitik durch den „Cobdenvertrag“ zwischen Frankreich und England im Jahre 1860, mit welchem England den letzten Schritt auf dem Wege zum absoluten Freihandel im englischen Sinne durch autonome Aufhebung der damals noch bestehenden Zölle für Ganzfabrikate tat, während Frankreich damit von dem bisherigen merkantilistischen Prohibitivsystem zu mässigen Schutzzöllen oder gemässigter Handelsfreiheit auf dem Wege von Tarifverträgen mit „Meistbegünstigungsklausel“ mit den verschiedenen Ländern überging. Es ist wiederum bekannt und Bestandteil der politischen Geschichte, wie Preussen einen solchen Handelsvertrag mit Frankreich als Mittel benützte, um die „schutzzöllnerischen“ Strömungen im Zollverein zurückzudrängen und zugleich Österreich für immer aus diesem auszuschliessen. Und die politischen Ereignisse, das Verhalten Österreichs im Jahre 1864, führten dazu, dass es das Ziel erreichte, die Krisis im Zollverein mit einem Siege Preussens endigte. Damit war auch die politische Einigung Deutschlands und damit die Schaffung der modernen deutschen Volkswirtschaft unter Preussens Führung entschieden.

Für ihre Zukunft und deren staatliche Gestaltung, d. h. für die Wirtschaftspolitik des Deutschen Reiches und seines führenden Staates Preussen, aber liegen nach den aufgezeigten geschichtlichen Grundlagen die ersten Aufgaben auf dem Gebiet der Agrarpolitik: es gilt, wie Knapp es genannt hat, eine „Verwestlichung des Ostens“ herbeizuführen, eine Abschwächung des grossen Unterschieds zwischen der Agrarverfassung des ostelbischen und des westelbischen Deutschlands durch eine innere Kolonisation grossen Stils, also Neuschaffung von Bauerngütern (und zwar mittleren und geschlossenen wie im Nordwesten und Südosten) aus bisherigen grossen Gütern – nicht nur aus nationalen Gründen wie in den polnischen Gebieten, sondern ebenso aus sozialen – und Verminderung, aber nicht vollständige Beseitigung der grossen Güter, welche, abgesehen von den politischen und sozialen Momenten, auch aus technischen Gründen als Pioniere des Fortschritts in der Landwirtschaft nicht entbehrt werden können. Durch eine solche einschneidende Änderung der Agrarverfassung, die auch eine umfassende Ansässigmachung von Landarbeitern in sich schliessen muss, wird nicht nur die Landarbeiterfrage in der besten möglichen Weise gelöst und der Entvölkerung des platten Landes Halt geboten,[1] sondern auch die einheimische Getreide- und Fleischproduktion gesteigert und eine Herabsetzung der Getreide- und Viehzölle ermöglicht werden, was unserer Industrie in den künftigen Handelsverträgen zugut kommen wird. Andererseits aber wird die stärkere Besiedlung des platten Landes im Nordosten und das mit ihr, wie die Ergebnisse der Ansiedlungskommission bereits zeigen, Hand in Hand gehende, Aufblühen der Städte in diesen Provinzen ebenso dem Handwerk neue Absatzgelegenheiten entstehen lassen wie der Industrie, welche immer mehr für einen kaufkräftigen, einheimischen Markt wird produzieren und dadurch von dem sich mehr und mehr verschliessenden oder industriell emanzipierenden Ausland unabhängiger werden und den sozial wünschenswerten Übergang zu vorwiegender Qualitätsproduktion wird vollziehen können. Damit wird die Entwicklung dem Ziel der modernen deutschen Handelspolitik zustreben: dem in den Welthandel verflochtenen, aber zugleich tunlichst geschlossenen Nationalstaat.




  1. Vgl. unter Abschnitt 46.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 238. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/254&oldid=- (Version vom 25.9.2021)