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welche durch Befreiung der wirtschaftlichen Kräfte die Wiederherstellung des preussischen Staates erreichen und die von der französischen Revolution gewaltsam durchgesetzten Reformen von oben her seitens des Königtums friedlich verwirklichen wollte. Es ist seit dem grossen Werke Knapps bekannt, dass dies auf dem Gebiete der Agrarpolitik nur zum Teil gelungen ist, und grosse sozialpolitische Fehler dabei gemacht wurden. Dazu gehört nicht nur die Durchbrechung, welche der Bauernschutz, im Anschluss an die Aufhebung der Erbuntertänigkeit im Jahre 1807, in gewissem Masse erfuhr, sondern vor allem die Einschränkung des Hauptteils der Bauernbefreiung bei den privaten, im „gutsherrlich bäuerlichen Verhältniss“ stehenden Bauern – der Aufhebung der Frohndienste und Verwandlung des schlechteren Besitzrechtes in Eigentum der sog. „Regulierung“, – durch die Deklaration von 1810 zum Regulierungsedikt von 1811 und die Aufhebung des Bauernschutzes zugleich mit der Regulierung, und zwar für alle Bauern, sowohl die der Regulierung unterworfenen, als die von ihr nachträglich ausgenommenen, d. h. in der Hauptsache die kleinen, nicht „spannfähigen“ Bauern. Nicht, dass letztere von der Regulierung ausgenommen wurden, und ihre Dienste zunächst dem bisherigen Gutsherren erhalten blieben, war der grosse Fehler, denn dies war notwendig, sollten die damals unzweifelhaft den technischen Fortschritt repräsentierenden und auch aus politischen Gründen nicht entbehrlichen Grossbetriebe weiterbestehen, sondern, dass nicht wenigstens für sie der Bauernschutz bestehen blieb. Infolgedessen wurden sie bis zur Wiederausdehnung der Regulierung auf sie im Jahre 1850 zum grössten Teil gelegt und in besitzlose Landarbeiter auf den grossen Gütern – die Insten, Gutstaglöhner oder Katenleute – verwandelt. Andererseits aber führte das sofortige Aufhören des Bauernschutzes auch bei den regulierten Bauern weiterhin noch in erheblichem Umfange zur Aufsaugung von Bauernstellen durch den Grossbetrieb, jetzt allerdings auf dem Wege des Kaufs. Zugleich aber erfolgte bei der Regulierung die Entschädigung des Gutsherrn auch nicht in Geld, sondern in Land, d. h. der Bauer mit „lassitischem Besitzrecht“ erhielt nur zwei Drittel, wenn es erblich war, und nur die Hälfte, wenn es unerblich war, des bisher von ihm benutzten Landes zu freiem Eigentum, der andere Teil ward mit dem Gutslande vereinigt.

So führte also die Bauernbefreiung im Nordosten keineswegs zu einer Rückgängigmachung der Entwicklung, welche die ritterlichen Grossbetriebe zum grossen Teil aus ehemaligen Bauernstellen hatte entstehen lassen, sie führte zu keiner Vermehrung der Bauernstellen und namentlich nicht des Bauernlandes – im Gegenteil zu einer weiteren Verminderung. Und so ging diese Konzentrationsbewegung hier weiter bis zur Neuzeit und führte zu dem gewaltigen Überwiegen des Grossgrundbesitzes im Nordosten, das heute – abgesehen von den hier nicht zu erörternden politischen Wirkungen – für die Volkswirtschaft Preussens und damit des Deutschen Reiches eine so fundamentale Bedeutung hat. Auf dieser geschichtlich entstandenen Agrarverfassung beruht das Übergewicht, welches der Grossgrundbesitz noch heute in Preussen hat, die Bedeutung und Macht der agrarischen Bewegung in Deutschland, die Höhe des durch sie herbeigeführten Zollschutzes, die ländliche Arbeiterfrage des Nordostens und die Entvölkerung des Landes durch die „Flucht vom Lande“ mit allen ihren nachteiligen Folgen für die sozialen Probleme, nicht nur auf dem Lande selbst, sondern auch in den Städten und in der Industrie. Auf die Folgen, welche sich daraus für die moderne deutsche und speziell preussische Agrarpolitik ergeben, wird am Schluss zurückzukommen sein.

II.

Auch die gewerbliche Entwicklung in Deutschland hängt von Anfang an mit dieser agrargeschichtlichen aufs Engste zusammen. Denn der im ersten Abschnitt geschilderte Frohnhof war zweifellos wenigstens in technischer Beziehung die Wiege der Entwicklung der einzelnen Gewerbe, wenn auch nicht, wie man früher angenommen hat, in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht gerade des Handwerks und der Zünfte in den Städten. Ist die Frage nach ihrer Herkunft und Entwicklung noch immer viel umstritten, so haben wir dafür ein klares Bild von ihrer Organisation und Wirksamkeit zur Zeit ihrer vollen Ausbildung. Sie bildeten damals unzweifelhaft eine „Konkurrenzregulierung“, die bei dem starken Einströmen der Bevölkerung in die Städte notwendig geworden war und die gewerbliche Tätigkeit aus einer „freien Kunst“ in ein

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 235. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/251&oldid=- (Version vom 25.9.2021)