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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

und so gelangten die Inhaber der Ritterhöfe allmählich in den Besitz aller Rechte an den ihnen benachbarten Bauern eines oder mehrerer Dörfer. Vor allem erlangten sie die Gerichtsherrschaft, und damit beginnt die Minderung der persönlichen Freiheit der Bauern: sie werden an die Scholle gebunden, „Privatuntertanen“ des Ritters. Und indem der Ritter von dem bisherigen grossen Grundherrn das Obereigentum am Bauernland erwirbt, wird er auch zum kleinen Grundherrn der Bauern, also Gerichtsherr, Erbherr und Grundherr in einer Person. Diese kleine Grundherrschaft ist auch ein geographisch abgeschlossenes Herrschaftsgebiet: in Verbindung mit dem durch Frohndienste der Bauern bestellten Rittergut, das ihr Mittelpunkt ist, bildet sie die „Gutsherrschaft". Auch beginnt im 16. Jahrhundert, als mit dem Aufkommen der stehenden Heere der Ritter sich hier in einen Landwirt verwandelt, schon die erste Einziehung von Bauernstellen zur Bildung von Ritterhöfen, das „Bauernlegen“, z. T. auf Grund gesetzlicher Befugnisse gegenüber „ungehorsamen“ Bauern oder „für den eigenen Bedarf“. Aber dies war doch zunächst noch von nur geringem Umfang.

Erst der dreissigjährige Krieg brachte dann einen allgemeinen Niedergang und eine erste starke Verminderung der Bauern in diesem Gebiete. Das Kolonisationsland mit seiner jüngeren Kultur und dünneren Bevölkerung wurde von ihm auch viel tiefer und dauernder geschädigt als das übrige, ältere Deutschland. Vor allem verschlechterte sich die Rechtslage der Bauern, welche den Krieg überstanden hatten, bei der „Wiedereinrichtung der Landgüter“ namentlich durch die Hilfe der Herrschaft beim Wiederaufbau der Höfe; von den „wüst“ gewordenen Stellen aber stellte die Herrschaft überhaupt nur so viele wieder her, als bei vollster Anspannung der Kräfte der auf sie gesetzten Bauern zur Bestellung des ritterschaftlichen Ackers notwendig waren. Das Land der übrigen Stellen aber wurde allmählich, in dem Masse als die Frohnbauern erstarkten und mehr leisten konnten, mit dem herrschaftlichen Acker vereinigt. So tritt in dieser Zeit eine bedeutende Verminderung des Bauernlandes und der Bauernstellen zugunsten der Rittergüter ein: die zweite Periode des „Bauernlegens“ im Nordosten. In ähnlicher Weise wirkten im folgenden Jahrhundert der schwedische und der siebenjährige Krieg. Aber schon hatte vor dem letzteren der junge preussische Staat mit einer energischen Agrarpolitik begonnen, zu der ihn charakteristischer Weise nicht finanzielle, sondern militärische Interessen – die Gefährdung der Rekrutierung und der Einquartierung der Truppen durch das Bauernlegen – drängten. Der von Friedrich dem Grossen verwirklichte „Bauernschutz“ machte dem Bauernlegen ein Ende, indem er zwar nicht den einzelnen Bauern als augenblicklichen Inhaber einer Stelle, aber diese selbst für die Zukunft vor der Einziehung schützte. Damit blieb dem grössten Teil des heutigen deutschen Nordostens, den alten Provinzen Preussens, die dritte und schlimmste Periode des Bauernlegens erspart, welche im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts und im ersten des 19. in dem damals nicht zu Preussen gehörigen Gebiet von Schwedisch-Pommern und ebenso in Mecklenburg, infolge der Einführung technischer Neuerungen des landwirtschaftlichen Betriebes aus England, unter kapitalistischem Gesichtspunkt – ähnlich wie dort im 16. und nochmals im 18. Jahrhundert – ganze Bauerndörfer in einzelne grosse Güter verwandelte und den Bauernstand, abgesehen vom Domanium, gänzlich aufrieb.

Aber auch die Bauernbefreiung versuchte Friedrich der Grosse schon in Angriff zu nehmen. Doch scheiterte er noch an dem Widerstand seiner Beamten und der Schwierigkeit der Aufgabe, welche hier viel grösser war als im übrigen Deutschland, da es sich hier nicht um die Beseitigung einer mehr oder weniger fossil gewordenen mittelalterlichen Verfassung handelte, sondern um die in neuerer Zeit entstandene Arbeitsverfassung der hier teils von Anfang an vorhandenen, teils durch das Bauernlegen entstandenen landwirtschaftlichen Grossbetriebe. Ihre Beseitigung bedeutete daher entweder das Aufhören der letzteren, deren Besitzer militärisch und politisch die Träger des preussischen Staates waren, oder die Notwendigkeit der Beschaffung anderweitiger Arbeitskräfte. So gelang auch Friedlich Wilhelm I. nur die Bauernbefreiung bei seinen Domänenbauern, wo er selbst der Gutsherr war, und nur durch Gewährung von Beihilfen zur Beschaffung neuer freier Arbeitskräfte für die Pächter der grossen Vorwerke. Die Befreiung der Privatbauern dagegen kam erst nach dem tiefen Sturze Preussens im Jahre 1806 zustande, als einer der Hauptteile der grossen Stein-Hardenbergischen Gesetzgebung,

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 234. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/250&oldid=- (Version vom 25.9.2021)