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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

des fortschreitenden wirtschaftlichen Denkens auch die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die unser Problem so sehr belasten, tunlichst behoben werden. Es gilt darum, die Kosten der Kinderaufzucht und Berufsvorbereitung zu verbilligen oder zum mindesten nicht weiter zu verteuern.

Zu dem Zweck bedarf es einer erhöhten Wohnungsfürsorge in den Städten; eine grosszügige Wohnreform muss mehr Luft und Raum unter annehmbarem Preis für die einzelne Familie in und ausser dem Hause beschaffen und auch einer Familie mit grösserer Kinderzahl eine gesunde und fröhliche Existenz ermöglichen. Auch die Erhaltung und Anlegung von zahlreichen freien Plätzen innerhalb der Stadt, die Bildung von Gartenstädten in den Vororten erscheinen zur Erleichterung des Aufenthalts der städtischen Kinder im Freien sehr erwünscht.

Sodann ist eine Erleichterung der allgemeinen Lebensversorgung unerlässlich im Wege einer den Bedürfnissen der Allgemeinheit Rechnung tragenden Zollpolitik und sonstiger Massnahmen der Staats-, Gemeinde- und Verkehrsverwaltung. Die weitere Durchführung der inneren Kolonisation mit Schaffung von Klein-Wohnstätten und Bauerngütern wird sich, abgesehen von anderen Gründen, auch unter dem Gesichtspunkte der Bekämpfung des Geburtenrückgangs vorteilhaft erweisen: sie vermehrt die Zahl der Eheschliessungen und hält die Geburtenmasse wenigstens eine Zeit lang aufrecht. Ob freilich die Bauernschaft als solche auf die Dauer die bisherige Fruchtbarkeit beibehält, lässt sich mit Sicherheit nicht erwarten angesichts der Erfahrungen, welche sowohl in Ungarn wie in Frankreich beim dortigen Bauernstand mit seinem vielfach ausgeprägten Ein- und Zweikindersystem gemacht wurden. Mehr ist vielleicht zu rechnen auf die Taglöhnerfamilien, die in der Regel eine grössere Kinderzahl aufweisen, deren Existenz allerdings das Bestehen von grossbäuerlichem und Grossgrundbesitz voraussetzt. Des weiteren muss mit der Tatsache gerechnet werden, dass gerade unter unseren städtischen und industriellen Arbeitern das verheiratete Element jetzt mehr vertreten ist als früher. Um deswillen muss gerade hier eine besondere auf Stärkung der Familie berechnete Politik einsetzen und die Aufzucht von Kindern erleichtern. Es kommen hierbei wohl vor allem Erziehungsbeihilfen (z. B. Kostenfreiheit des Unterrichts, Lehrmittelfreiheit) bei grosser Kinderzahl, eine bessere Bezahlung verheirateter Beamten gegenüber Junggesellen in Frage. Als „Familienzulagen“ sind sie bereits in zahlreichen Städten für städtische Arbeiter eingeführt, meist in Form einer Staffelung der Löhne je nach dem Familienstand des Arbeiters. Derartige Familienzulagen sind beispielsweise eingerichtet von den städtischen Verwaltungen zu Charlottenburg, Halberstadt, Halle, Hanau, Frankfurt a. M., Düsseldorf, Krefeld, Königsberg, Mainz und Strassburg. Die Zulagen sind verschieden gestaltet. So erhält z. B. in Krefeld ein Arbeiter nach mindestens fünfjähriger Dienstzeit für eheliche Kinder unter 16 Jahren einen monatlichen Zuschuss von 4 M., wenn er bis zwei Kinder hat, 8 M. für drei bis vier Kinder und monatlich 12 M. Zuschuss für vier und mehr Kinder. Mietzuschüsse ausser Lohnerhöhungen gewährt die Stadt Frankfurt a. M., um den Kindern der Arbeiter eine gesunde Wohnung zu verschaffen. Verwitwete und geschiedene Arbeiter erhalten, wenn sie Kinder haben, dieselben Zulagen wie verheiratete. Die Stadt Cottbus stellt in einem Ausschreiben ihrem neuen 1. Bürgermeister neben seinem Gehalt noch eine pensionsberechtigte Hausstandszulage in Aussicht, sie ist auf 500 M. jährlich bemessen, wenn er verheiratet ist und nicht mehr als 3 Kinder unter 18 Jahre hat, auf 1000 M., wenn er mindestens 4 Kinder unter 18 Jahren zu erhalten hat.

Für die Privatbetriebe wird dieser Weg einer Familienzulage nicht ohne weiteres gangbar sein. Das Interesse des Arbeitgebers würde bald dazu führen, möglichst kinderarme Arbeiter einzustellen. Darum wollen Arthur Schlossmann und Alfred Grotjahn den an und für sich guten Gedanken eines Zuschusses bei starker Familie allgemein durchgeführt sehen im Wege einer obligatorischen sozialen Versicherung, etwa in Gestalt einer weiter auszubauenden Familien- oder Mutterschaftsversicherung. Diese hätte mit wachsender Kinderzahl ein wachsendes Einkommen zu gewährleisten; kinderarme, kinderlose Familien, Junggesellen hätten in steigender Proportion die Mittel aufzubringen, aus denen Kinderhilfe an diejenigen Ehepaare zu zahlen wäre, die eine grosse Zahl noch nicht erwachsener Kinder haben. Hierdurch würde rüstigen Elternpaaren ein zahlreicher Nachwuchs leichter erträglich werden und der unerwünschte Nachwuchs minderwertiger Eltern würde eingeschränkt, die schwer drückenden Familienlasten, die gegenwärtig und in Zukunft

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 223. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/239&oldid=- (Version vom 22.11.2023)