Seite:Handbuch der Politik Band 2.pdf/236

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

Weitere Hemmnisse der Fruchtbarkeit liegen auf sozial-pathologischem Gebiet. So häufen sich im Zusammenhang mit der gewollten Beschränkung der Fruchtbarkeit die kriminellen Aborte, um eingetretene Konzeptionen nicht zum Austrag kommen zu lassen. Daneben werden prophylaktische Aborte bei gewissen Erkrankungen der Mutter zur Verhütung bezw. Beseitigung der Schwangerschaft jetzt zahlreicher als früher vorgenommen, zumal die moderne Medizin den mütterlichen Organismus höher bewertet als das Kind im Mutterleib. Auch die durch die dichtere Wohnweise, durch die Verstadtlichung der Bevölkerung herbeigeführte Mehrung von Geschlechtskrankheiten, sowie die Folgen des Alkoholismus sind im Zusammenhang mit dem Rückgang der Fruchtbarkeit zu nennen. Ferner spielt eine Rolle die zunehmende Neurasthenie als Folge sowohl des rationalisierten Geschlechtslebens (Coitus interruptus) wie der Hast des modernen Erwerbslebens. Die Wirkungen dieser pathologischen Momente äussern sich in Sterilität, Totgeburten, Fehlgeburten. Nach ärztlicher Wahrnehmung sowie nach Feststellung von Krankenkassen kommt auf 5 bis 6 Lebendgeborene durchschnittlich mindestens eine Fehlgeburt, bei einzelnen Schichten schon auf 3 Lebendgeburten. Durch solche Änderungen der Fehlgeburtenhäufigkeit scheint nicht nur eine Minderung der Fruchtbarkeit, sondern insbesondere auch eine Veränderung im Geschlechtsverhältnisse der Geborenen, nämlich ein Sinken des Knabenüberschusses bedingt zu sein.

Mögen diese pathologischen Gründe bei der Erscheinung des Geburtenrückgangs auch ins Gewicht fallen, so sind sie einstweilen sicher nur sekundärer Natur und nicht von entscheidender Wirkung. Darauf lässt schon die Tatsache schliessen, dass, wie erwähnt, ein Rückgang der ehelichen Fruchtbarkeit nicht in den ersten Jahren der Ehe, sondern erst bei den über 25 Jahre alten Frauen sich nachweisen lässt.

III. Bedeutung des Geburtenrückgangs.

Zweifellos liegt im Geburtenrückgang eine gewisse Gefahr.

Vor allem ist in biologisch-völkischer Beziehung – mit J. Grassl – darauf hinzuweisen, dass ein Volk oder ein Volksteil, in dem der Zwergfamilie (Familie mit weniger als drei Kindern) gehuldigt wird, nicht mehr vollfruchtig zu werden imstande ist, auch wenn die Ursache, die zur Zwergfamilie führt, wegfällt. Die Zwergfamilie ist für den Muttertrieb, den Trieb und Willen zum Kinde nachhaltend schädlich und bedroht daher im Endeffekt das Volk in der Existenz. Ausserdem verdirbt ein allgemeiner werdendes Zweikindersystem die Güte der vorhandenen Rasse, denn erfahrungsgemäss fallen die erstgeborenen Individuen vielfach etwas geringwertiger aus als die späteren Früchte, das dritte und vierte Kind gedeihen gewöhnlich körperlich wie geistig am besten.

Die geringe unzureichende Fruchtbarkeit in den Klassen der Besitzenden und Höhergebildeten führt vielfach zum Aussterben von Familien mit älterer Kultur und höherer Bildung. Dadurch gehen wichtige vererbbare Werte von Wissen und Können dem Volke verloren und ist ein ungenügender Nachwuchs an hochbegabten, zur Führung auf den verschiedensten Gebieten des Staats- und Gesellschaftslebens befähigten und für das Wohl der Massen unentbehrlichen Personen zu befürchten. Zudem wird infolge Wegsterbens der genannten Familien der durchschnittliche Pegelstand des Volkes immer wieder herabgedrückt und an einer an sich möglichen höheren Entwicklung gehindert.

Neben dem völkischen und kulturellen leidet auch der politische und wirtschaftliche Fortschritt des Reiches. Eine grosse Volkszahl ist unerlässlich für eine starke Wehr. Zur Behauptung der wirtschaftlichen Stellung bedarf es einer grösseren Zahl Erwerbstätiger. Solange Deutschland Einfuhrland für Menschen, erscheint jeder Geburtenüberschuss als nationaler Gewinn, stärkt die Selbstversorgungsmöglichkeit mit Arbeitskräften, macht weniger abhängig vom ausländischen Arbeitsmarkt. Zudem hat sich eine grosse Kopfzahl in der Einzelfamilie wie im Volksganzen als psychischer Hebel für den wirtschaftlichen Fortschritt erwiesen. Nur wo ein gewisser Zwang zur Tatkraft vorhanden ist, spannt der einzelne seine körperlichen und geistigen Kräfte stark an. „Eine Nation, die sich auf den Rentnerstandpunkt zurückzieht und sich mit der vorhandenen Volkszahl begnügt, ist zum langsamen Verfall verurteilt. Diesen Völkern geht es wie einem in Wohlleben und Selbstgenügsamkeit gross gewordenen Menschen, der sich nicht anzustrengen braucht, und es deshalb auch nicht tut“ (Knöpfel).

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 220. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/236&oldid=- (Version vom 22.11.2023)