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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

die prozentuale Ausgabe für Wohnungsmiete. Darum müssen die ärmeren Klassen an sich schon bei den heutigen Verhältnissen einen bedeutenden Teil ihrer Einnahmen für die Wohnungsmiete verwenden; um so mehr scheuen sie die Kosten einer grösseren Wohnung, die eine zahlreiche Familie benötigen würde, ganz abgesehen davon, dass die Auffindung einer solchen Wohnung vielfach den kinderreichen Familien erschwert, zum Teil unmöglich gemacht wird.

Auch die erhöhte Beteiligung der Mädchen und Frauen am ausserhäuslichen Erwerbsleben wirkt geburtenhemmend. Die Arbeit, welche junge Mädchen in den verschiedenen Betrieben zu verrichten haben, meist einseitig, mechanisch, durch dauernd angespannte Aufmerksamkeit nervenangreifend, ist nur selten für die weitere physische und sonstige Entwicklung günstig. Viele Arbeiten werden von Frauen übernommen, die für ihren Organismus ungeeignet sind, bei an sich geeigneter Erwerbsarbeit nehmen die Frauen in der Regel zu wenig auf ihren Organismus Bedacht. Daher äussert die ausserhäusliche Erwerbsarbeit so vielfach bedenkliche Rückwirkungen auf die Mutterschaftsleistungen. Entweder wird die Mutterschaft der Erwerbstätigkeit geopfert, oder die Mutterschaft hat zu leiden während ihrer Entwicklung, während des Verlaufes der Geburt, während der Zeit der an sich notwendigen Wöchnerinnenpflege. Infolgedessen so vielfach in den Kreisen der erwerbstätigen Frauen Früh- und Fehlgeburten, Kinderlosigkeit, dauernde Erkrankungen! Kommen unter den erwähnten schwierigen Verhältnissen wirklich lebenskräftige Säuglinge zur Welt, so hindert die ausserhäusliche Betätigung, die in der Regel Trennung von Mutter und Kind bedingt, an der richtigen Pflege für das Kind, es mangelt vielfach die Stillung, soweit überhaupt eine Stillfähigkeit bei geringer Pflege (schlechter Ernährung) und Überanstrengung der Mutter vorhanden ist. Weil aber mangelnde oder nur kurz dauernde Stillung nicht selten Säuglingssterblichkeit oder kümmerliche Entwicklung der Kinder im Gefolge hat, verzichtet nicht selten die erwerbstätige Frau von vorneherein auf Mutterschaftsleistungen und sucht ihnen zuvorzukommen.

Ebenso wirkt der jetzige Schulzwang, der Kinderschutz und die allgemeine Militär-Dienstpflicht in geburtenmindernder Richtung. Dadurch ist das Kind länger ein unproduktiver und kürzer ein produktiver Faktor für die Familie.

Die erwähnten ökonomischen Ursachen machen es erklärlich, dass zwar auch auf dem Lande[1] ein Geburtenrückgang vorhanden ist, aber nicht so intensiv wie in der Stadt, obschon die zeugungsfähigen und die verheirateten Altersklassen auf dem Lande geringer vertreten sind. Allein die Kinderaufzucht ist hier wesentlich leichter und lohnt sich wegen der Verwendbarkeit der heranwachsenden und herangewachsenen Kinder im eigenen (unter der Arbeiternot an sich leidenden) landwirtschaftlichen Betrieb viel eher als dies vom Standpunkt städtischer und industrieller Haushaltungen aus der Fall ist. „Die Motive zur Erhöhung der Fruchtbarkeit sind“ – wie Grassl richtig bemerkt – „also bei den Bauern keineswegs edler oder anders als die Motive zur Einschränkung der Kinderzahl bei den Städtern. Überall sind es egoistische, wirtschaftliche, das eine Mal ein Lucrum, das man erwartet, das andere Mal ein Damnum, das man verhütet“!

Damit ist bereits angedeutet, dass, wenn die eheliche Fruchtbarkeit nicht so stark bei der katholischen als bei der evangelischen Konfession nachgelassen hat, dies weniger zu tun hat mit der Konfession selbst als mit dem Standort, wo die katholische Bevölkerung sich in Deutschland vorwiegend findet. Wie oben Seite 192 gezeigt, sind die Katholiken hauptsächlich in ländlichen Erwerbszweigen (Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Bergbau, Stein- und Erdenindustrie, Baugewerbe) vertreten, in ihnen ist die Fruchtbarkeit am grössten. Und weiter wirkt mit der starke, sich durch grössere Fruchtbarkeit auszeichnende slavische Einschlag, den durch östliche Zuwanderung die katholische Bevölkerung im letzten Jahrzehnt erhielt. Soweit die städtische und industrielle katholische Bevölkerung in Betracht kommt, geht die eheliche Fruchtbarkeit fast in gleicher Weise zurück wie bei der evangelischen, die vorwiegend in städtischen und industriellen Berufen sich betätigt.


  1. Nach der Untersuchung von L. Berger für Preussen zeichnen sich die Landwirtschafts- und die Bergbaubevölkerung durch höchste Fruchtbarkeit aus. Geringer ist sie in der übrigen Industrie und vor allem im Handel und Verkehr. Am niedrigsten stellt sie sich innerhalb des Beamtenstandes.
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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 219. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/235&oldid=- (Version vom 22.11.2023)