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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

Reiches Wohlfahrt. Wie nichts im Leben mehr bindet als gemeinsame Ziele, so bindet auch politisch noch mehr als die Vergangenheit die gemeinsame Zukunft, sie ist eine starke Willensgemeinschaft, die, richtig dem Verständnis der Allgemeinheit näher gerückt, tiefer wirkt als jede Erinnerung, weil sie den ganzen Menschen im innersten ergreift.

Die Bekanntschaft mit den tatsächlichen Verhältnissen leistet da vorzügliche Dienste. Unter ihrem Zwang, unter ihrem Bann verflüchtigen sich Vorurteile, einseitige Interessenmeinungen, profitiert das Gesamtinteresse unter Wahrung des Suum cuique, erweitert sich der Sinn für das Ganze und das Mögliche, werden die Energien zur Selbstbehauptung und Durchsetzung unserer nationalen Interessen geweckt und gekräftigt. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint die durch die neueste Statistik aufgenommene Inventur über das Deutsche Volk von besonderem Wert; sie fördert – abseits von Partei- und sonstiger subjektiver Meinung – den realistisch politischen Blick, die Einsicht in das innere Gefüge des Volks, in die Existenzbedingungen des Reichs und seine Entwicklungstendenzen, sie führt zur nüchternen Schärfe eines unbestechlichen Wirklichkeitssinns und zur kühlen Berechnung.

Je mehr diese Kenntnis wirtschaftlicher, gesellschaftlicher Tatsachen verbreitet wird, um so mehr wird die wirtschaftliche Einsicht vermehrt. Wirtschaftliche Einsicht aber ist wirtschaftliche Kraft. Dies gilt für die Regierung wie für die Massen. Mit der Selbsterkenntnis auf der Basis des zeitlichen und räumlichen Vergleichs, also mit früheren Zeiten und anderen Völkern, schwindet die Eifersucht, kommt der Eifer, der nachzukommen sucht, stellt sich von selbst das weitere zielbewusste Streben des Volkes ein, kommt der Wille zur Tat, wird aus dem Lernvolk ein Tatvolk.

Pflege der Energien im Volk ist aber das beste Gegengewicht gegen die mit Zunahme des Wohlstandes auch in Deutschland auftretende Gefahr der Saturiertheit, der Verweichlichung, der Decadence. Die sicheren Grundlagen eines erfolgreichen nationalen Charakters – sagt Th. Roosevelt – beruhen auf den grossen Kampfeseigenschaften, die nicht nur im Krieg, sondern auch im Frieden sich offenbaren können, sie sind verkörpert in den kampfesfreudigen Recken, die mit nie erlahmender Tatkraft und Zähigkeit unter Aufbietung aller Kräfte einem grossen schwierigen Ziel nachstreben. Solche Naturen entspriessen seltener den wohlhabenden Klassen, wo der in der Notwendigkeit liegende Sporn fehlt. Dagegen (um mit Carnegie zu reden) „in ehrlicher Armut geboren und gezwungen zu sein um des Lebens Notdurft in der Jugend zu arbeiten und zu kämpfen“, das ist die beste Schule, seine Fähigkeiten zu entwickeln, den Charakter zu stählen, sich zu nützlichem Glied der menschlichen Gesellschaft heranzubilden. Das ist die Schule, aus der zumeist unsere Führer hervorgegangen sind, das schafft die zu Taten berufenen feurigen Naturen, bei denen – wie H. Treitschke so schön sagt – Charakter und Bildung zusammenfallen und jede Erkenntnis als ein lebendiger Entschluss in der Seele glüht. Grund genug, der Aufwärtsentwicklung der unteren Klassen Raum zu schaffen und auch in wohlhabenden Kreisen das heranwachsende Geschlecht zur Freude an der Arbeit, zur gewissenhaften Erfüllung der Pflicht, zur Charakterstärke, zur Ausbildung der Energie zu erziehen! Die Kraft, Reichtümer zu erwerben, ist wichtiger als der Reichtum selbst.

Geht solche Politik Hand in Hand mit einer verständigen Förderung sonstiger Einfachheit, Abhärtung und körperlicher Tüchtigkeit (Turnen, Sport, Militärdienst), so ermöglichen wir eine gehörige Entfaltung der Persönlichkeit, des Selbstvertrauens, des dem Wirtschaftsleben Schwungkraft verleihenden Unternehmungsgeistes, des tatenfrohen Organisationstalents. Und wir sorgen für ein starkes, weitblickendes Führertum, das in unserem Zeitalter der ausgeprägten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Koalitionen noch mehr als früher von Bedeutung ist. Darin liegt aber zugleich die Gewähr für weitere nachhaltige Rührsamkeit des Volkskörpers, für Ausbildung unserer sozialen Gesamtkraft, für Hebung des Gesamt-Niveaus, für Steigerung der wirtschaftlichen, wehrhaften und kulturellen Gesamtleistung der deutschen Nation.



Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 215. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/231&oldid=- (Version vom 22.9.2021)