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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

während der unqualifizierte Arbeiter, der nur seine Muskelkraft einsetzen kann, durch die technischen Fortschritte an Bedeutung verliert. Darum wird die industrielle Führung künftig weniger dem Staat mit den meisten Menschenkräften, sondern dem Staat mit den intelligentesten Arbeitern zufallen. An die allgemeine Volksschulpflicht wird sich also bald eine Pflicht zur beruflichen Ausbildung reihen müssen, je mehr wir genötigt sind, auf fremden Märkten mit differenzierter hochentwickelter Qualitätsware zu konkurrieren.

Als weltwirtschaftlicher Industrie-, Handels- und Gläubigerstaat hat das Deutsche Volk ferner erhebliche Interessen im Ausland. Diese erheischen Schutz und Förderung durch zielbewusste Auslandspolitik, durch Rückhalt an einem geeinten land- und seestarken Mutterland. Die Erhaltung des offenen Markts wird nach wie vor besondere Aufgabe dieser Auslandspolitik sein, denn wir müssen notwendigerweise einen Teil unserer Waren im Ausland absetzen, wenn wir nicht Blut statt Gold, Menschen statt Waren exportieren wollen. Anderseits ist es wichtig, dass heimische Organisationskräfte und heimische Kapitalien im Auslande grosse Kulturarbeiten übernehmen und dass sie Macht und Ansehen des Reichs, abgesehen von den dem Heimatland zufliessenden Gewinnen und Zinsen, auch durch das dem deutschen Namen verschaffte Prestige fördern. Durch verständiges Zusammenarbeiten von Regierung, Kapitalistengruppen, Privatorganisationen und speziellen Sachverständigen können die deutschen Interessensphären in aussichtsreichen Zukunftsgebieten wesentlich ausgedehnt werden. Das Auslandsdeutschtum aber, in dem bedeutsame Werte für die wirtschaftliche und kulturelle Weltstellung des Deutschen Volkes verkörpert sind, bedarf nach wie vor seitens des Mutterlands warmherziger Fürsorge, hierdurch helfen wir ihm die sprachliche und geistige Gemeinschaft mit der deutschen Nation wahren und stärken wir die Stellung des Deutschtums in der Welt.

Daneben ist eine ausgleichende Wirtschaftspolitik im Innern unerlässlich. Wir haben Bundesstaaten und Reichsteile mit geradezu stürmischem wirtschaftlichen Aufschwung und solche mit wesentlich langsamerem Tempo. Bei letzteren handelt es sich vornehmlich um Agrarbezirke, die gerade bei der zunehmenden Industrialisierung und Verstadtlichung des Reichs hoch im Kurse gestiegen sind und noch steigen werden, sowohl als Menschenproduktionsstätten für Industrie und Wehrkraft und als unentbehrliche Lieferanten von Lebensmitteln wie als wichtige Reserve für künftige intensivere Wirtschaft. Soweit sie fiskalisch negativ sind, muss ihnen im Weg ausgleichender Wirtschaftspolitik zur Pflege der Kulturaufgaben unter die Arme gegriffen werden. Denn auch ihre Leistungen liegen im ureigensten Interesse der Selbsterhaltung von Reich und Volk. Hierher gehören u. a. Massnahmen, die im Gegensatz zur seitherigen Entwicklung eine Dezentralisierung von staatlichen und Reichsämtern bezwecken, soweit eine solche ohne Beeinträchtigung ihrer sachlichen Wirksamkeit möglich ist.

In einer solchen Agrar-, Industrie- und Handelspolitik liegt zugleich ein gut Stück Sozialpolitik, dazu angetan, den unteren Klassen wirtschaftlich und gesellschaftlich zu helfen, ihnen das Hineinwachsen in den Bedürfniskreis, die Denkweise, das Seelenleben der Mittelklassen zu erleichtern. Damit muss Hand in Hand gehen die Förderung des sozialen Verständnisses. Die Unternehmer sind zugänglicher zu machen für die neuen, billigen Bedürfnisse der Arbeiter, um willige und tüchtige Kräfte zu haben, die Arbeiter müssen in die schwierigen Aufgaben der Arbeitgeber, in die das wirtschaftliche Gedeihen der Unternehmerarbeit bedingenden Faktoren Einsicht erlangen. Hierdurch wird die gegenseitige Annäherung, das Mitverantwortungs-, das Solidaritätsgefühl, das Bewusstsein, dass Arbeiter und Arbeitgeber aufeinander angewiesen sind, profitieren zum Besten des beiderseitigen wohlverstandenen Interesses.

Was diese Einsicht in die Interessengemeinschaft von Unternehmer und Arbeiter für den Erfolg des Zusammenarbeitens bedeutet, das ist für das Gesamtinteresse im Weg besserer staatsbürgerlicher Erziehung anzustreben. Sie muss bei richtiger Pflege zur allgemeinen Erkenntnis des organischen Zusammenhangs, der zwischen den Berufsständen und sozialen Schichten besteht, zum Verständnis der ganzen Volkswirtschaft als eines lebendigen Organismus führen, in dem jeder Einzelne mit tausend Fäden ans ganze Volk geknüpft ist. Sie muss so die Ausbildung eines starken National-Bewusstseins der Massen bewirken und das Volk von der Überzeugung durchdringen, dass jeder Einzelne mitverantwortlich ist und auch mittätig zu sein hat für des

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 214. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/230&oldid=- (Version vom 22.9.2021)