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so ist doch keineswegs eine Proletarisierung der Gesellschaft, keine zunehmende Verelendung der Massen eingetreten. Dies war so wenig der Fall, dass die gegenteilige Annahme (Karl Marx) auch von den Sozialdemokraten selbst (Bernstein, Schönlank, Kautsky usw.) nicht mehr aufrecht erhalten, sondern zum alten Eisen geworfen wird.

Anderseits ist selbstverständlich, dass bei dem sozialen Aufbau der Bevölkerung die Arbeiterklasse die breiteste Schicht einnimmt. Indessen finden sich in der untersten Klasse keineswegs die schlechtesten Elemente der Gesellschaft, sondern viele verjüngende, belebende Kräfte des Volkstums. Während die verlebten Elemente von oben nach unten herabsinken, erfolgt im weiten Umfang ein Aufstieg junger, tüchtiger Elemente des Volkes von unten durch den neugeschaffenen Mittelstand in die Höhe der sozial besser gestellten Kategorien. Das Volk verjüngt sich von unten nach oben.

Bei all diesen Betrachtungen bilden übrigens die berufsstatistischen Nachweise zwar wichtige Unterlagen für die Kenntnis der bestehenden Klassenunterschiede. Aber die soziale Schichtung wird keineswegs bloss durch die Stellung im Beruf bedingt. Fast noch mehr von Einfluss ist Besitz und Höhe des Einkommens und dessen Verhältnis zu den Bedürfnissen. Der Gegensatz des Besitzes teilt jeden Berufsstand in einen vermögenden und einen vermögenslosen Teil und bringt in die gesamte soziale Klassenbildung manche wesentliche Modifikation, wie wir beispielsweise bereits oben zum neuen Mittelstand die qualifizierte Arbeiterschaft zu rechnen hatten, deren Gehalt und Lohn den Verdienst des selbständigen Handwerkers übersteigt. Das Besitzmoment ist für die moderne Klassenbewegung noch besonders von Belang in Anbetracht der heutigen Beweglichkeit der Arbeit sowie der Beweglichkeit und Teilbarkeit des Besitzes, wonach man mit seinem Besitz – Grundbesitz, Kuxe, chemische, Brauerei-, Bank-Aktien usw. – in den verschiedensten Berufen stehen kann, ohne sich mit seiner Person anpassen zu müssen oder zu können. Indessen hat gerade die Vergesellschaftung unserer Grossbetriebe eine Milderung im Gegensatz des Besitzes ermöglicht. Anstatt dass, wie Karl Marx meinte, je ein Kapitalist viele totschlug, erzeugte das vergesellschaftete Grossunternehmen eine Mehrzahl von Kapitalisten, als Aktionäre, Gesellschafter usw., als welche heute auch kleinere Kapitalsbesitzer und besser gestellte Arbeiter am Kapitalgewinn der Grossbetriebe partizipieren. Mit anderen Worten, die Dezentralisierung des Kapitals im Zusammenhang mit der Entwicklung der Aktiengesellschaften, Gesellschaften mit beschränkter Haftung etc. wirkte dem an sich vorhandenen Gegensatz des Besitzes innerhalb der Klassen wenigstens etwas entgegen.

Überdies muss bei Abmessung des sozialen Gewichts der sozialen Schichten nicht bloss die Quantität berücksichtigt werden, sondern auch ihre qualitative oder dynamische Bedeutung, nämlich die Bedeutung der Individuen für das Ganze nach Massgabe persönlicher Eigenschaften des Geistes, Charakters usw. Die Industriekapitäne, die Betriebsleiter von Hunderten oder Tausenden von Personen, die Männer, die einen entscheidenden Einfluss im wirtschaftlichen Leben, ausüben bezw. ausgeübt haben, die Pioniere der industriellen und kommerziellen Armee, die sogenannten Kulturträger, können nicht auf gleicher Stufe sozial eingeschätzt werden wie die ebenfalls in der Selbständigen-Schicht von der Statistik gezählten Näherinnen, Waschfrauen usw. Es handelt sich im ersteren Fall um Führer, Organisatoren grossen Stils, kulturelle Vorkämpfer die mit Wagemut und kräftiger Energie, mit Kenntnis des Bedarfs und der Absatzfähigkeiten, mit sicherem Blick für die Vorbedingungen einer weiteren nationalen Wohlfahrt, mit Übung in der Kunst der Menschenbehandlung sich als geistige Triebkräfte – jeder innerhalb seines Wirkungskreises – durchsetzen und Grosses im Gesamtinteresse, im Dienste der wirtschaftlichen, politischen, kulturellen Mission des Vaterlandes leisten. Solche Individualitäten, solche Persönlichkeiten, die sich nicht bloss in der statistischen Klasse der Selbständigen, sondern auch in der der Angestellten und Arbeiter finden, kommen in der alles nivellierenden Statistik nicht gebührend zur Geltung. Und doch sind sie für das Emporsteigen des Volkes von hohem Belang. Bei Analysierung des Volksgefüges nach der quantitativen Seite darf man also die qualitative nicht ausser acht lassen, sonst kommt man bei einer Gliederung nach sozialen Schichten zu unrichtigen Massverhältnissen, die in der Sozial- wie in der Wirtschaftspolitik leicht Schaden anrichten.

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 208. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/224&oldid=- (Version vom 21.9.2021)