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Ausserdem ist der Rückgang der allgemeinen Sterbeziffer mitbedingt durch die Verminderung der Säuglingssterblichkeit (vergl. Tabelle S. 179 unten), und diese ist ihrerseits zurückzuführen auf die Hebung der allgemeinen Hygiene, die gesteigerte Sauberkeit, das häufigere Stillen an der Mutterbrust und auf eine Reihe staatlicher und gemeindlicher Massnahmen – Mutterschutz, Geburts- und Wochenbetthygiene, Förderung des Stillgeschäfts durch Beratungen, Stillprämien etc., Milchküchen, Säuglingspflege- und Krankenanstalten, Kostkinderaufsicht, Einrichtung von Beratungsstellen etc. Die Säuglingssterblichkeit hat hierdurch ihre früheren Schrecken schon wesentlich verloren; ihr Rückgang kommt ebenfalls unserer volklichen, ethischen und wirtschaftlichen Kraft zustatten, bedeutet doch jedes dem Tod entrissene, an sich lebensfähige Kind die Erhaltung eines guten Stückes Nationalkapital von ideellem und materiellem Wert.

Ohne Zweifel kann noch viel geschehen, um die derzeitige Sterbeziffer weiter herabzudrücken. Namentlich sind von dem jetzt allenthalben aufgenommenen Kampf gegen die Säuglingssterblichkeit und gegen die hauptsächlichsten Volkskrankheiten (Tuberkulose, Alkoholismus, Geschlechtskrankheiten, Krebs usw.) sowie von der Förderung der Hygiene in der Stadt und auf dem Land noch beträchtliche Erfolge für das natürliche Wachstum unserer Bevölkerung zu erwarten.

Freilich ist die Sterbeziffer für sich allein kein verlässiger Massstab für die konstitutionelle Gesundheit und körperliche Tüchtigkeit der Bevölkerung. Eine Bevölkerung kann, worauf Max von Gruber mit Recht aufmerksam macht, infolge Beseitigung einer äusseren Todesgefahr langlebiger werden und trotzdem schwächlich, kränklich, zur Fortpflanzung untauglich werden, ja sogar ihre Beschaffenheit verschlechtern. Indessen besteht nach den sachkundigen Untersuchungen der Generalstabsärzte von Schjerning und von Vogl einstweilen kein Anlass zur Annahme eines Niedergangs des physischen Werts der deutschen (wehrpflichtigen) Jugend oder gar eines Rückstands gegenüber anderen Nationen. Immerhin mögen Symptome, die darauf schliessen lassen, dass es mit der Gesundheit der städtischen und industriellen Bevölkerung trotz ihrer grösseren Langlebigkeit nicht völlig befriedigend bestellt ist, im Aussterben von Familien erblickt werden. Vielfach handelt es sich um Familien der oberen Gesellschaftsschichten mit älterer Kultur und höherer Bildung. Insofern hierdurch wichtige vererbbare Werte von Wissen und Können dem Volke verloren gehen, lässt sich in gewisser Beziehung von einem Degenerationsvorgang sprechen, der zugleich bewirkt, dass der durchschnittliche Pegelstand des Volkes sich nicht in einer an sich möglichen Weise hebt, sondern infolge des Wegsterbens der genannten Familien immer wieder herabgedrückt wird.

Das natürliche Wachstum des Volkes, wie es in der Differenz zwischen Geburten und Sterbefällen, also im Geburtenüberschuss – 1912 in Höhe von 839 887 oder 12,7‰ (1911: 739 945 oder 11,3‰) – sich äussert, lässt unser Volkstum jedenfalls noch derzeit als sehr jugendkräftig und weit entfernt von einer Greisenhaftigkeit erscheinen. Auch im Lichte der internationalen Statistik stellt sich die natürliche Bevölkerungsbewegung in Deutschland durchaus befriedigend dar. Sie hat bei starker Geburtenhäufigkeit und mittlerer Sterblichkeit den Vorzug eines relativ regelmässigen und doch raschen Fortschritts. Sie unterscheidet sich dadurch namentlich von Frankreich, das im Jahre 1910 nur einen Geburtenüberschuss von 70 581 oder 1,8‰ (774 358 Geburten, 703 777 Sterbefälle), im Jahre 1911 nicht nur keinen Geburtenüberschuss (742 114 Geburten, 776 983 Todesfälle), sondern sogar ein Geburtendefizit von 34 869 hatte. In Russland wird trotz höherer Fruchtbarkeit nur ein klein wenig grösserer Nettoertrag erzielt als in Deutschland; es betrug im Jahre 1911 dort die Geburtenziffer 42,0, die Sterbeziffer 25,3, der Geburtenüberschuss 16,6‰. Auch gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika schneidet Deutschland besser ab. Dort beruht die Zunahme in erster Linie auf starkem Negerzuwachs und auf Einwanderung von gegen früher – was Besitz, Bildung, Gesundheitswert, Unterstützungsbedürftigkeit anlangt – erheblich verschlechterten Elementen, sie ist bei dem Rückgang der weissen Geburten mit einer bedenklichen tiefgreifenden Umgestaltung der rassenmässigen Zusammensetzung der Bevölkerung verbunden.

Im Gegensatz zu Frankreich und den Vereinigten Staaten ist in Deutschland von einer Stockung der natürlichen Bevölkerungszunahme, die eine patriotisch-politische Angst vor Erschöpfung der bevölkerungserhaltenden Volkskraft rechtfertigt, geschweige von Rassenselbstmord keine Rede.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 180. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/196&oldid=- (Version vom 17.9.2021)