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9. Konkurrenz ausländischer Werte.

Der neueren Entwickelung auf dem Effektenmärkte charakteristisch ist die Konkurrenz, welche dem inländischen Kapitalmärkte und vor allem dem Markt der festverzinslichen Werte durch ausländische Werte, Staatspapiere und sonstige Obligationen gemacht wird.

In Deutschland sind aus dem Nachbarstaat Russland grosse Posten an Staatswerten und staatlich garantierten Eisenbahnobligationen, ferner erhebliche Summen amerikanischer Eisenbahnfonds, endlich viele Goldminen- und Diamantminenshares, Gummiwerte pp. untergebracht. Immerhin halten sich die Jahresemissionen ausländischer Werte an der Berliner Börse durchschnittlich erst auf der Höhe einiger hundert Millionen Mark. In Frankreich und England dagegen spielt die Anlage ausländischer Werte eine von Jahr zu Jahr steigende und manchen der dortigen Patrioten beängstigende Rolle. Sie machen dort jährlich je 2–4 Milliarden M. aus.

Wir begnügen uns an dieser Stelle damit, diese Konkurrenz der ausländischen Werte für unsere Staatsanleihen zu konstatieren. Die Frage der Zulässigkeit und Bedeutung der Anlage von einheimischen Kapitalien in ausländischen Werten zu erörtern, erscheint uns hier nicht der Ort. Die Frage kann nicht allein oder auch nur vorwiegend unter dem Gesichtspunkte der Stellung des Staatskredits beurteilt, sondern muss vor allem unter allgemein volks- und weltwirtschaftlichen, wie politischen Gesichtspunkten betrachtet werden.

10. Einfluss der intensiven Wirtschaftsentwickelung.

Haben wir in Vorstehendem eine ganze Reihe von Ursachen kennen gelernt, welche zu dem Kursrückgange unserer Staatspapiere mehr oder weniger beigetragen haben, so sind sie doch alle nicht ausreichend, einen so grossen Kurssturz herbeizuführen, wie wir ihn tatsächlich seit 1½ Dezennien erlebt haben. Es muss neben ihnen ein bisher noch nicht berührter Faktor mitgewirkt haben, der um so mehr als die weitaus wichtigste Ursache anzusehen ist, als er selbst wieder mehrere der schon genannten Ursachen seinerseits erst hervorgerufen oder doch wenigstens stark befördert hat. Das ist der starke wirtschaftliche Aufschwung, welchen National- wie Weltwirtschaft in dem in Rede stehenden Zeitraum genommen haben. Die Tatsache dieses Aufschwungs selbst hier näher zu erweisen, wird entbehrlich sein. Dass sie aber auf die Entwickelung der Staatspapierkurse und in den grossen Kulturstaaten, welche am stärksten an diesem Wirtschaftsaufschwung beteiligt waren und die zugleich ihren Staatsanleihebedarf am eigenen Markte decken, besonders nachteilig wirken musste, und gewirkt hat, lässt sich ebenso a priori wie a posteriori beweisen.

Zunächst ist klar, dass bei den starken wirtschaftlichen und technischen Fortschritten von Handel, Industrie und Landwirtschaft enorme, zum grossen Teil dem Markte der sicheren Anlagen entgehende oder ihm entnommene Kapitalien zur Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs, wie vielfach auch zu Neu-, Vergrösserungs-, Erweiterungsanlagen erforderlich wurden. Dieser Mehrbedarf äusserte sich zum Teil in der Vermehrung von Wertpapieren, von Aktien und Dividendenwerten, sowie von Industrieobligationen. Die zahllosen privaten Einzelbetriebe hielten aber natürlich ebenfalls viele ersparte Kapitalien für sich zurück, die in wirtschaftlich stilleren Zeiten ganz oder zum Teil an den Staatspapiermarkt geflossen sein würden. Denn eine volle wirtschaftliche Hochkonjunktur macht sich schliesslich in dem Betriebe des kleinsten Krämers bemerkbar. Dass die steigende Gewinnquote das anlagesuchende Publikum zum Teil dem Markte der niedrig, aber fest verzinslichen Werte entfremdete und demjenigen der industriellen und Dividendenwerte zuführen musste, liegt hiernach auf der Hand. Dazu kommt, dass gute Dividendenpolitik, grosse Rücklagen usw. es grossen Werken und Banken vielfach ermöglicht haben, eine solche Stetigkeit in ihre Dividendenverteilungen zu bringen und dem Publikum die Überzeugung von einer solchen Sicherheit und Gefestigtheit ihrer Unternehmungen einzuflössen, dass auch der Vorzug der Festigkeit und Gleichmässigkeit der Verzinsung der Staatswerte jenen Werten gegenüber an Zugkraft einbüssen musste. Auch bei anderen Dividendenwerten liess der mit geringen Unterbrechungen fortdauernde wirtschaftliche Aufschwung den Gedanken der Notwendigkeit einer angemessenen

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 170. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/186&oldid=- (Version vom 16.9.2021)