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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

Vorschusszahlungen der Unfallrenten, welche die Reichspost und die bayerische und württemb. Postverwaltung für Rechnung der Berufsgenossenschaften usw. gesetzlich zu leisten hatten, können die gewöhnlichen Betriebsfonds von vornherein nicht ausreichen. In solchen Fällen muss ergänzend die Aufnahme schwebender Schulden eintreten.[1]

Die hierfür übliche Form ist, soweit das Reich in Frage kommt, die der unverzinslichen Reichsschatzanweisungen. Das sind Anweisungen auf Zahlung einer bestimmten Geldsumme zu einem bestimmten Termine seitens der Reichshauptkasse. Sie lauten in der Regel auf Beträge von 1000, 10 000, 50 000 oder 100 000 M.

Sie werden in der Regel von der Reichsbank[2] gegen Verrechnung eines Zinses in Höhe des Bankdiskonts diskontiert. Die Reichsbank hat das Recht, diese Schatzanweisungen weiter an andere Banken und Private zu rediskontieren, ein Recht, von dem sie namentlich im Interesse ihrer Diskontpolitik Gebrauch macht, um bei unerwünschter Geldfülle im offenen Markte den Geldmarkt durch Verkauf von Sch. zu verengen, zu versteifen. Der Reichskanzler hat zu bestimmen, wann und in welcher Höhe Sch. ausgegeben werden sollen, wie lange die Umlaufszeit dauern soll u. s. f. Bei den zu vorübergehenden Verstärkungen der ordentl. Betriebsmittel der Reichshauptkasse bestimmten Sch. darf die Umlaufszeit den Zeitraum von 6 Monaten nach Ablauf des betr. Rechnungsjahres nicht überschreiten (§ 7 der Reichsschuldenordng. in der Fassung der Nov. v. 22. 2. 1904).

Der etatsmässig zulässige Höchstbetrag des Umlaufs der Schatzanweisungen zur vorübergehenden Verstärkung des Betriebsfonds der Reichshauptkasse wird alljährlich im Reichsfinanzetatsgesetz festgelegt (§ 1 Abs. 2 der Reichsschuldenordn. v. 19. 3 1900). So wurde diese Höchstsumme für 1877 und 1879 auf 24 Mill., für 1878, 1880–81 auf 40 Mill. festgesetzt. In den Jahren 1882–86 erhöhte man ihn auf 70 Mill., 1887–91 auf 100, von 1892–1901 auf je 175 Mill. Seitdem musste er gewaltig gesteigert werden; er betrug 1902–1904 je 275, 1905–1907 je 350, 1908 475, 1909, dem Jahre der Finanzreform, sogar 600 Mill. M. Erst infolge der Reichsfinanzreform konnte der Höchstsatz wieder 1910 auf 450, 1911 auf weitere 375 Mill. M. ermässigt werden. Seit 1912 ist der Höchstbetrag weiter auf 350 Mill. M. herabgemindert. Diese Zahlenentwicklung gibt jedoch insofern kein ganz vollständiges Bild, als Schatzanweisungen in den Grenzen jener Maximalsummen mehrfach im Jahre begeben werden können.

Der unverzinsliche Schatzanweisungskredit als schwebende Schuld zur Verstärkung der Betriebsfonds ist ausser im Reiche auch in einer Anzahl der grossen Bundesstaaten üblich. In Preussen, Bayern, Württemberg, Baden, Hessen, Elsass-Lothringen pflegt in den Finanz- und Etatsgesetzen ein Höchstbetrag für Ausgabe kurzfristiger Schatzanweisungen „zur vorübergehenden Verstärkung des Betriebsfonds“ der Staatshauptkasse festgesetzt zu werden.

Rechnet man die Inanspruchnahme des deutschen Geldmarkts durch Schatzanweisungen und sonstige kurzfristige Geldaufnahmen seitens des deutschen Reichs und der Bundesstaaten zusammen, so ergeben sich steigende und namentlich in gewissen Monaten, vor allem in der Winterhälfte oft erhebliche Summen.

Erst in neuerer Zeit hat sich diese Gesamtsumme namentlich infolge geringerer Bedürfnisse des Reiches erheblich vermindert. (Nähere Ziffern in der 1. Aufl. S. 147.)

Der Form nach als schwebende Schulden auftretende, ihrem Wesen nach mehr den festen, fundierten Schulden zuzurechnende Schuldformen sind die verzinslichen (mehrere Jahre laufenden) Schatzanweisungen.

Als sich gegen Ausgang der 90er Jahre der deutsche Anleihemarkt erheblich verschlechterte und die Wirtschaftskrise des Jahres 1900 die Ausgabe 3% Reichsanleihen zu annehmbaren Preisen unmöglich machte, fing man zum ersten Male im Reiche wiederum an, längerfristige aber verzinsliche Schatzanweisungen auszugeben. Man begann zunächst mit Ausgabe, von 80 Mill.


  1. Schwebende Schulden finden sich daher auch in England und Belgien.
  2. Gelegentlich werden auch an andere Banken oder Private Schatzanweisungen gegeben.
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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 148. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/164&oldid=- (Version vom 14.9.2021)