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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

durch die Notwendigkeit, die aus dem Kriege von 1870–71 erwachsene ungeheure Steigerung des Staatsbedarfs rasch und unter ungünstigen Verhältnissen zu bewirken, so in Anspruch genommen, dass andere als fiskalische Erwägungen nicht zum Durchbruche gelangten. Es kam dazu, dass auch in der Republik zunächst diejenigen Kreise die Herrschaft behielten, welche an der Aufrechterhaltung des bestehenden Zustandes im Steuerwesen interessiert waren. So geschah es, dass die vier alten direkten Hauptsteuern, abgesehen von einer etwas schärferen Anspannung der Patentsteuer, zur Deckung des gesteigerten Staatsbedarfes wenig beitrugen und der Mehrbedarf teils durch Erhöhung der Verkehrs-, Transport- und Getränkesteuern, des Tabakmonopols, der den direkten Steuern assimilierten Taxen sowie der Zölle, teils durch dauernde oder vorübergehende Einführung neuer Steuern gedeckt wurde. Nur die Steuer auf das Einkommen aus beweglichen Werten, die 1872 eingeführt wurde, kann als Besteuerung gewisser (nicht aller) Arten von Kapitalerträgen als wertvolle Ergänzung de Ertragssteuersystems betrachtet werden. Es darf freilich nicht übersehen werden, dass die französischen Ertragsteuern ihrer ganzen Veranlagung nach für Erhöhungen wenig geeignet waren. Die reichlich vorhandenen Ungleichmässigkeiten der Belastung, wie sie aus der grundsätzlich beibehaltenen Veranlagung nach äusseren Merkmalen sich ergaben, mussten bei einer Steigerung der Sätze ins Unerträgliche wachsen, zumal auch die dem französischen Steuerwesen eigentümlichen Zuschläge zur Deckung der Bedürfnisse der Departements und Kommunen, die in starker Steigerung begriffen waren, einen empfindlichen und sehr ungleichmassigen Druck erzeugt hatten und sich wie ein lähmender Ballast an das Staatssteuerwesen hingen. Seit den 1890er Jahren sind allerdings wiederholt Anläufe zu gründlicherer Umgestaltung einzelner Steuern gemacht worden. So wurden, um nur das Wichtigste zu erwähnen, die Tür- und Fenster- und die Personal-Mobiliarsteuer reformiert, die Grundsteuer für die untersten Stufen beseitigt oder ermässigt, die Getränkebesteuerung vereinfacht, die sogenannten hygienischen Getränke entlastet, dafür die Branntweinsteuer bedeutend erhöht, an den Patentsteuern in Einzelheiten manche Verbesserung herbeigeführt, die Register- und Stempelabgaben vielfach ausgestaltet, bei der Erbschaftssteuer die Progression nach der Höhe der Erbportionen durchgeführt und die Steuersätze hier wie bei der Schenkungssteuer grösstenteils erheblich gesteigert. Zu den bisherigen Steuern traten u. a. die Militärtaxe, die Velozipedsteuer. Die seit den Jahren 1891-92 einsetzende schärfere Schutzzollrichtung war zum Teil auch von fiskalischen Interessen getragen und erwies sich auch für diese als vorteilhaft. Das Vorhandensein eines starken Fehlbetrages im Etat für 1910 zwang die Regierung u. a. einige Luxussteuern sowie die Erbschafts- und Schenkungssteuer neuerdings weiter anzuspannen.

Es soll nicht geleugnet werden, dass die in den letzten Jahrzehnten ergangenen zahlreichen Steuergesetze manche Verbesserungen gebracht, auch einen erheblichen Teil des neuen Steueraufkommens den leistungsfähigeren Klassen aufgebürdet haben: die Erhöhung der Kapitalrentensteuer i. J. 1890, dann die wiederholten Erhöhungen der Erbschafts- und Schenkungs- und der meisten Verkehrssteuern sind hierher zu zählen. Aber eben so sicher ist, dass die Verteilung der Steuerlast auch heute noch sehr viel zu wünschen lässt. Von den gesamten Bruttoeinnahmen aus Steuern entfallen etwa 28 Prozent auf die direkten Steuern, auf die Zölle, Monopole und Verbrauchssteuern rund 50 Proz., auf die Verkehrssteuern etwa 21 Proz. Und an der Steigerung der Bruttoeinnahmen der Steuern und Zölle von 1875 bis 1908, die nahezu 1 Milliarde Fr. betrug, sind die direkten Steuern mit 62,5, die Zölle mit 84,2, die Monopole mit 58,3, die Verkehrssteuern mit 15,4 Proz. beteiligt. Nun trifft von den Verkehrssteuern weitaus der grösste Teil auf die besitzenden Klassen (die Erbschaftssteuer ist seit 1875 auf mehr als das Doppelte gestiegen) und es wird dadurch die offensichtige Mehrbelastung der ärmeren Volksklassen durch die Zölle und Verbrauchssteuern in etwas ausgeglichen. Aber von einer gerechten Verteilung der Lasten kann auch nicht annäherungsweise gesprochen werden und vor allem bleibt der schwere Missstand, dass die direkten Steuern nach ihrer ganzen Veranlagung eine stärkere Anspannung kaum vertragen. Sie werden schon heute, zumal wegen der fortwährenden Zuschläge für Kommunal- und bestimmte Staatszwecke, von der Bevölkerung immer unangenehmer empfunden. Hier könnte nur eine gründliche Reform unter Aufgabe der veralteten Ertragssteuern und Hand in Hand mit einer Umgestaltung des kommunalen Steuerwesens Hilfe bringen. Deshalb hat das Verlangen nach einer allgemeinen Einkommensteuer,

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 120. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/136&oldid=- (Version vom 14.9.2021)