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was ich, besonders auch wegen der Weiterwirkung der Agrarzölle auf die Preise von Getreide usw. im Inland überhaupt bezweifle, so ist eben noch mehr zu verlangen: nämlich dass die mittleren und vollends die oberen Klassen nicht nur mindestens ebensoviel im Verhältnis zu ihrer, namentlich in der Einkommenshöhe liegenden Leistungsfähigkeit im ganzen an Steuern tragen, wie die unteren, sondern dass sie verhältnismässig mehr tragen. Das ist aber bei der immerhin schon eingetretenen bedeutenden Steigerung der Erträge unserer Zölle und Verbrauchssteuern bisher nicht erreicht worden.[1]

Demgegenüber ergab meine Rechnung, dass das Steuersystem von Reich, Staat und Gemeinde kombiniert in Deutschland nicht nur die Proportionalität, sondern auch die vorstehend geforderte, aber fürs erste noch vermisste Progression realisiert,[2] selbst dann, wenn man die nicht dem Staate zufallende Belastung der Konsumenten durch die Zölle in Anrechnung bringt!

Inzwischen ist allerdings die letzte Reichsfinanzreform ins Land gegangen. Es ist aber nicht anzunehmen, dass sie das Verhältnis der Belastung zu ungunsten der kleinen Einkommen verschoben hat. Denn die bundesstaatlichen und Gemeindesteuern, die das Prinzip der Gerechtigkeit besonders stark betonen, und dadurch einen Ausgleich für die umgekehrte Progression der Reichssteuern schaffen, haben in dieser Zeit keine geringere Steigerung als die letzteren erfahren. Ueberdies haben die Deckungsvorlagen von 1913 weitere direkte Reichssteuern gebracht.

Nach alledem darf sogar behauptet werden, dass die Steuerprogression in Preussen heute schon wieder eine schärfere ist als die vorhin auf Grund der Verhältnisse hauptsächlich von 1907 berechnete. Ohne auf das Einzelne der Daten hier näher eingehen zu wollen, kann nämlich nunmehr ausgesprochen werden, dass wenn die Tausend-Mark-Einkommen in Preussen dank der Reichsfinanzreform gegenwärtig mit Steuern von nicht weniger als 12–13%, im Mittel 12½%, belastet sein sollten, die Belastung der Hunderttausend-Mark-Einkommen unter Berücksichtigung aller ins Gewicht fallenden Faktoren im Durchschnitt wohl nahe an 18% geht. Vorausgesetzt ist dabei allerdings ihre Erfassung zum vollen Betrage unter der Einkommens- und Vermögenssteuer. Würden gegenwärtig etwa nur 9/10 (oder nur 4/5) erfasst, so würde der Durchschnittssatz der Steuer für diese sehr grossen Einkommen eine Ermässigung auf ca. 16½% (oder 15) % erfahren müssen. Dies also das bei Berücksichtigung aller möglichen Faktoren, auch solcher, die sonst in die Rechnung nicht einbezogen werden, sich ergebende Bild.

Die „Entwicklung“ geht aber, zumal mit dem Wachstum der Gemeindesteuerzuschläge, mit dem allmähligen Steigen der bundesstaatlichen Einkommensteuerprozente, das von den Gemeinden durch ihre Zuschläge wieder potenziert wird, mit der immer schärferen Erfassung der steuerpflichtigen Einkommen und Vermögen, zweifellos weiter in der Richtung stärkerer Progression, die Differenz der Steuerbelastung zwischen grossen und kleinen Einkommen nimmt nicht ab, sondern wächst, und der Zeitpunkt ist mit ziemlicher Sicherheit abzusehen, wo grösste Einkommen in Preussen-Deutschland durchschnittlich 20% an Steuern, in der Industrie gewonnene und Dividenden-Einkommen sogar noch mehr zu entrichten haben werden.[3] Mit Bezug auf die kleinsten Einkommen sind demgegenüber Tendenzen wirksam, die eher zu einer


  1. Vgl. Ad. Wagner, Die Reichsfinanznot, 1908.
  2. Neuerdings ist man von der gegenteiligen Meinung mehr und mehr zurückgekommen. Dafür verweist man aber mit Vorliebe darauf, dass bei Errechnung des sogenannten freien Einkommens sich andere Progressionssätze oder gar eine umgekehrte Progression ergebe. Mit diesem Hinweis bekennt man sich aber zu einem sehr bedenklichen Steuerideal. Zumindest schliesst er die Forderung ein, dass ein beträchtliches Einkommen von jeder Steuer frei sein muss, ohne doch diese Forderung meinem Urteil nach irgend überzeugend rechtfertigen zu können. Die Folge davon wäre, dass der Staat die grösseren Einkommen in einer Weise in Anspruch nehmen müsste, die die Kapitalbildung und Unternehmerfreudigkeit nicht blos gefährden, sondern nahezu lähmen würde.
  3. Vgl. die jüngsten Zusammenstellungen und Bemerkungen über die verschiedene Höhe der Besteuerung des aus verschiedenen Quellen fliessenden Einkommens in der Denkschrift von Alexander Tille, Die Steuerbelastung der Industrie in Reich, Bundesstaat und Gemeinde, 1911. Allerdings werden hier die Überwälzungen im allgemeinen nicht berücksichtigt.
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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 106. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/122&oldid=- (Version vom 11.9.2021)