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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Befugnisse, sind in Deutschland die landesherrlichen Territorien erwachsen, die dann allmählich seit Ausgang des Mittelalters den Charakter wirklicher Staaten annahmen.

Bei solchen aus engeren Verbänden hervorgegangenen Staaten ist es regelmässig schwer festzustellen, wann die Staatsbildung als vollendet anzusehen ist, und auch nach vollendeter Entstehung pflegen die so entstandenen Staaten noch längere Zeit in ihren Einrichtungen und in ihrem Leben tiefgreifende Nachwirkungen ihres Ursprungs zu bewahren.

4. Sehr mannigfach sind die Arten der tatsächlichen Entstehung eines neuen Staates aus einem schon vorhandenen Staate oder mehreren schon vorhandenen Staaten, und für die meisten dieser Entstehungsarten liegen zahlreiche geschichtliche Beispiele vor. Hierher gehörige Entstehungsarten sind: Gliederung bezw. Kolonisation; Teilung; Lossagung; Eroberung; Konföderation; Union im engeren Sinne.

a) Von der Entstehung eines Staates durch Gliederung sprechen wir, wenn von einer bestehenden Staatsgewalt aus einem Teil des Volkes und Landes ein neuer Staat geschaffen wird, der dann regelmässig dem alten Staate untergeordnet sein soll. So hat die Türkei 1878, allerdings infolge kriegerischen Zwanges, den Vasallenstaat Bulgarien in das Leben gerufen; so ist Elsass-Lothringen auf dem Wege, von der deutschen Reichsgewalt aus einer Provinz des Reiches zu einem Einzelstaate desselben gemacht zu werden; so hat der brasilianische Staat 1889 nach Abschaffung der Monarchie seine bisherigen Provinzen in Gliedstaaten umgewandelt. Fortdauernd geht in Nordamerika die Erhebung von Territorien zu Staaten durch einen Willensakt der Unionsgewalt vor sich; allerdings wird auch die Bevölkerung des Territoriums bei dieser Staatsgründung beteiligt.

b) Nahe verwandt mit der Entstehung von neuen Staaten durch Gliederung ist diejenige durch Kolonisation. Die Kolonisation als Ansiedelung eines Volksteils in einem bisher von diesem Volke nicht bewohnten Lande führt allerdings, auch wenn sie von dem betreffenden Staate geleitet bezw. geschützt wird, in den meisten Fällen wenigstens nicht unmittelbar zur Errichtung eines neuen Staates. Die von den alten hellenischen Staaten entsandten Kolonien aber erhielten von vorneherein den Charakter besonderer, sogar vom Mutterstaat rechtlich völlig unabhängiger Staaten.

c) Durch Teilung entstehen Staaten, indem an Stelle eines bisherigen Staatsverbandes, regelmässig kraft des Willens desselben, eine Mehrzahl von neuen Staaten tritt. So hat sich die Teilung des römischen Reiches in ein west- und ein oströmisches Reich, die des fränkischen Reichs, allerdings unter Mitwirkung kriegerischer Vorgänge, nach dem Tode Ludwigs des Frommen in drei verschiedene Staaten vollzogen. Besonders häufig kommen Erbteilungen deutscher Territorien, die freilich noch nicht zu Staaten in vollem Sinne erwachsen waren, im späteren Mittelalter und im Beginn der Neuzeit vor.

d) Die Lossagung, d. h. die einseitige Abtrennung eines räumlich zusammenwohnenden Volksteils mit dem betreffenden Gebiete von dem Staate, zu dem er bisher gehörte, führt möglicherweise nur zur Vergrösserung eines anderen schon bestehenden Staates. Meist aber geschieht sie zu dem Zwecke und mit dem Erfolge der Bildung eines neuen besonderen Staates. Auf diesem Wege sind, um nur Beispiele aus der neueren Zeit anzuführen, die Königreiche Belgien und Griechenland sowie sehr zahlreiche neue Staaten in Nord-, Mittel- und Südamerika entstanden.

e) Die Eroberung, d. h. die dauernde Unterwerfung eines Volks oder eines grösseren Volksteils mit dem von ihm bewohnten Gebiete durch Anwendung kriegerischer Gewalt von selten eines anderen Volkes, hat häufig nur eine Vergrösserung des siegreichen Staates zur Folge. Nicht selten aber errichtet dieser in dem neu erworbenen Lande einen neuen Staat, sei es nur oder wesentlich nur aus der unterworfenen bisherigen Bevölkerung, sei es mit Einschluss des siegreichen Volkes oder zahlreicher Angehörigen desselben, die auf dem gleichen Gebiete sich dauernd niederlassen. Geschichtliche Beispiele der letzteren Art geben die von zahlreichen west- und ostgermanischen Völkern auf römischem Boden errichteten sowie die später von den Normannen in der Normandie, in England, in Unteritalien und Sizilien gegründeten Staaten. Als geschichtliche Beispiele der

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 69. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/89&oldid=- (Version vom 10.7.2021)