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(dem Geschlecht), mag diese nun mutter- oder vaterrechtlicher Art gewesen sein, der Keim der ältesten Staaten zu erblicken; hinzukommen aber musste eine gewisse Sesshaftigkeit, wie sie allerdings auch schon den mit ihrem Vieh innerhalb bestimmter Grenzen umherziehenden Nomaden eignet, und eine solche scheint erst eingetreten zu sein mit oder nach der Vereinigung verschiedener Sippen zu einem grösseren Stammes-Verbande. Diese Vereinigung wird bald eine freiwillige, bald eine gewaltsame gewesen sein. Ganz zurückzuweisen aber ist die Annahme, dass nur durch gewaltsame Unterwerfung einer (bereits ansässigen) Bevölkerung von selten stammfremder Eroberer Staaten ursprünglich entstanden seien und hätten entstehen können.

3. Auch in historischen Zeiten und für schon staatsangehörige Menschen ist eine ursprüngliche Entstehung neuer Staaten nicht ausgeschlossen.

a) Sehr bestritten ist freilich, ob Staaten überhaupt durch freiwilligen Zusammentritt von Individuen entstehen können und ob geschichtliche Beispiele dieser Entstehungsart sich nachweisen lassen. Die Möglichkeit solcher Entstehung wird keinenfalls in Abrede zu stellen sein, wenn man von der Frage der rechtlichen Wertung eines solchen Aktes absieht; wir werden zudem dartun (unten IV 2 c und 3), dass dieser auch rechtlich imstande ist, einen Staat zu gründen; hinzukommen muss freilich die Gewinnung eines Gebietes. Der meist erörterte, allerdings in seiner Bedeutung für die Streitfrage vielfach angezweifelte geschichtliche Fall einer solchen Staatsgründung ist der berühmte Vertrag, den puritanische Auswanderer aus England 1620 an Bord der Mayflower schlossen. Weder die fortdauernde englische Staatsangehörigkeit der Vertragschliessenden noch die Zugehörigkeit des von ihnen in Besitz genommenen Gebietes zum englischen Staate kann als ein Hindernis für die Annahme, dass das von ihnen gegründete Gemeinwesen ein – der englischen Staatsgewalt untergeordneter – Staat gewesen sei, gelten; dagegen erscheint es als sehr zweifelhaft, ob der Vorgang als ursprüngliche Entstehung eines Staats anzusehen ist. Bei der Gründung des Staates Kalifornien im Jahre 1849, die gleichfalls als typisches Beispiel der hier in Frage stehenden Entstehung eines Staates geltend gemacht worden ist, kommt gegen diese Auffassung noch besonders in Betracht, dass die Berufung einer von den Einwohnern gewählten konstituierenden Versammlung und die Vorlegung der von dieser beschlossenen Verfassung an die Bevölkerung im Auftrage der Vereinigten Staaten, denen das betreffende Gebiet schon gehörte, stattfand.

b) Häufig hat sich ein Staat in geschichtlicher Zeit entwickelt aus einem engern organisierten, genossenschaftlichen oder herrschaftlichen Verbande, indem, sei es bewusst oder unbewusst, die Zwecke der Gemeinschaft und der Kreis der ihr unterworfenen Angelegenheiten sich erweiterten bezw. neben den Interessen des Herrschenden die der Beherrschten Berücksichtigung fanden, und indem auch die Herrschaft über ein Territorium, soweit sie noch fehlte, erworben wurde. Die fortdauernde Unterordnung unter eine höhere Staatsgewalt schliesst eine solche Umwandlung eines nicht staatlichen Verbandes in einen Staat richtiger Ansicht nach nicht aus. So haben sich im Mittelalter vielfach städtische Gemeinden zu Stadtstaaten ausgebildet; als der entscheidende Punkt in dieser Entwickelung muss die Vereinigung der gesamten öffentlichen Gewalt innerhalb der Stadt in den Händen von Organen des städtischen Gemeinwesens angesehen werden. Nicht selten haben auch Religionsgemeinschaften zugleich den Charakter von Staaten angenommen oder gleichsam einen Staat aus sich hervorgebracht. Beispiele der ersteren Art bieten der Mormonenstaat in Utah; das Chalifenreich, allerdings mit Hilfe von Eroberung; annähernd auch die katholische Kirche in der Höhezeit ihrer mittelalterlichen Machtstellung. Als Beispiele der zweiten Art können der Kirchenstaat, der Staat des deutschen Ordens in Preussen und der Jesuitenstaat in Paraguay angeführt werden, wenn auch im ersten Fall Verleihung staatlicher Hoheitsrechte durch den Träger der weltlichen Gewalt, im zweiten Fall kriegerische, im dritten Fall friedliche Unterwerfung mitgewirkt hat. In einer den letzterwähnten Fällen ähnlichen Weise haben auch Kolonial- und Handelsgesellschaften zur Entstehung von Staaten auf den von ihnen besiedelten oder unterworfenen Gebieten geführt; als Beispiele mögen der Negerstaat Liberia und der Kongostaat genannt werden. Aus privaten Grundherrschaften, freilich unter Mitwirkung der Übertragung öffentlichrechtlicher

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 68. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/88&oldid=- (Version vom 10.7.2021)