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die Auffassung und Bezeichnung eines konkreten Gebildes als Staat gestatten oder hindern. Wenn wir z. B. im Einklang mit der jetzt herrschenden Theorie den Staat als ein Gemeinwesen, als eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, betrachten, schliesst dann eine mehr oder weniger privatrechtliche oder anstaltliche Gestaltung des betreffenden Verbandes seine Charakterisierung als Staat aus ? Endlich, auch wenn keine begrifflichen Momente in Frage kommen, ist es oft schwer zu entscheiden, ob ein bisher bestehender Staat durch geschichtliche Veränderungen insbesondere seiner Zusammensetzung seine Individualität verloren hat, also untergegangen ist und (möglicherweise) ein neuer Staat an seine Stelle getreten ist. Hat z. B. die Union Englands und Schottlands den Untergang dieser beiden Staaten, die Entstehung eines neuen Staates Grossbritannien bewirkt oder hat dadurch zwar Schottland seine staatliche Sonderexistenz verloren, der englische Staat aber nur eine Vergrösserung erhalten? Ist das jetzige Deutsche Reich nur eine erweiterte Fortsetzung des Norddeutschen Bundes, oder ist es als dessen Rechtsnachfolger, also als ein von ihm verschiedenes neues Gemeinwesen zu betrachten ? (Vgl. unten II 4 g.)

3. Wenn man den Staat als Körperschaft auffasst, ihm eine Persönlichkeit zuschreibt, so liegt darin die Annahme, dass der Begriff des Staates ein juristischer Begriff ist, dass dem einzelnen Staate nicht nur eine tatsächliche, sondern auch eine rechtliche Existenz zukommt. Nun ist es aber möglich und kommt geschichtlich häufig vor, dass, wie in zahlreichen anderen Beziehungen des menschlichen Zusammenlebens, so auch hinsichtlich des Vorhandenseins eines staatlichen Verbandes für eine konkrete Menschengruppe tatsächliche Erscheinung und Recht nicht zusammenfallen. Eine nicht juristische Betrachtungsweise kann, indem sie von dem rechtlichen Moment absieht, die tatsächliche Entstehung eines Staates annehmen, auch wenn eine Neubildung nur die übrigen begrifflichen Erfordernisse eines Staates erfüllt. Von dem gleichen Gesichtspunkt aus kann man einen Staat als tatsächlich untergegangen auch dann ansehen, wenn die bisherigen staatlichen Beziehungen zwischen einer konkreten Menschengruppe zwar rechtlich noch fortdauern, aber im übrigen aufgehoben sind. Freilich fallen diese Unterscheidungen für diejenigen Theorien hinweg, welche in der tatsächlichen Existenz eines Staates zugleich seinen Rechtsgrund erblicken oder welche Entstehung und Untergang der Staaten als der juristischen Qualifizierung entzogen betrachten (vgl. unten IV 1 und 2 b).

Wir werden im Folgenden zunächst die tatsächliche Entstehung, dann den tatsächlichen Untergang von Staaten ohne Rücksicht auf die rechtliche Qualifizierung der betreffenden Vorgänge behandeln; hieran wird sich die Erörterung der Wege reihen, auf denen Staaten rechtlich zur Entstehung gelangen oder untergehen.

II. Tatsächliche Entstehung von Staaten.

1. Staaten entstehen tatsächlich in sehr verschiedener Weise. Wie die Geschichte zeigt, erwachsen sie entweder allmählich oder werden absichtlich gegründet. In beiden Fällen aber findet bald eine primäre, bald eine sekundäre Entstehung statt; entweder geht der neue Staat aus einem schon bestehenden Staate bezw. mehreren schon bestehenden Staaten hervor oder er bildet sich ohne eine solche Grundlage. Nach dem letzteren Gesichtspunkte unterscheiden wir ursprüngliche (originäre) und abgeleitete (derivative) Entstehungsarten.

2. Die ältesten Staaten können nur auf ursprünglichem Wege entstanden sein. Die Annahme der früheren naturrechtlichen Theorie jedoch, dass sie durch freiwillige Vereinigung bisher vereinzelt lebender Menschen gebildet worden seien, muss als unrichtig betrachtet werden, weil es niemals einen Naturzustand gegeben hat, in dem die Menschen völlig isoliert lebten, diese vielmehr immer schon durch ihre Geburt einer natürlichen Gemeinschaft wenigstens von der Mutterseite her angehörten. Andererseits wird man der neuerdings hervorgetretenen Ansicht, dass der Staat vormenschlichen Ursprungs sei, indem schon die Vorfahren der ältesten Menschen in Horden ein staatliches Zusammenleben geführt hätten, wenigstens so lange für eine willkürliche Hypothese halten müssen, als wir über den Ursprung des Menschen keine sicherere Kunde besitzen. Am wahrscheinlichsten ist in der auf gemeinsamer Abstammung beruhenden erweiterten Familie, der Sippe

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 67. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/87&oldid=- (Version vom 10.7.2021)