Seite:Handbuch der Politik Band 1.pdf/81

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Staat soll für das Wohl seiner Mitglieder sorgen, so gross sind die Schwierigkeiten in dem Augenblick, wo man die Theorie in Praxis umzusetzen versucht. Der Begriff des Wohles ist ein rein subjektiver; jedes Individuum hat andere Bedürfnisse, die befriedigt werden müssen, damit es sich wohl fühlen kann; aber diese Tätigkeit kann nicht der Staat vornehmen. Wohin es führt, wenn er sich doch berufen fühlt, solche Aufgaben zu erfüllen, zeigt in deutlicher Weise die Willkürherrschaft des Polizeistaates. Er liess nicht das Individuum entscheiden, was ihm not tue, sondern richtete ein grandioses System der Bevormundung des Volkes ein und mengte sich in alle Privatangelegenheiten des Einzelnen, wodurch die von der Staatsgewalt freie Sphäre des Individuums auf ein Minimum reduziert wurde. Unter Berufung auf das allgemeine Wohl ist nach dieser Theorie jede Massregel gerechtfertigt; sie kennt keine Beschränkung der Staatsgewalt und kann daher nicht als brauchbare Grundlage für eine praktische Politik betrachtet werden. Die oben aus Christian Wolff gebrachten Beispiele führen die Theorie selbst ad absurdum.

Ähnliche Schwierigkeiten zeigen sich bei einem Versuch, die ethische Theorie in Praxis umzusetzen. Was als sittlich anzusehen ist, kann objektiv nicht festgestellt werden. Insbesondere wenn es sich um Sittlichkeit in religiösem Sinne handelt, wird eine Feststellung des Begriffes zur Unmöglichkeit, da die verschiedenen Religionen und selbst innerhalb der christlichen die verschiedenen Konfessionen zu berücksichtigen wären.[1] Überdies verfällt die ethische Theorie in denselben Fehler wie die eudaimonistische, indem sie die möglichen Grenzen staatlicher Wirksamkeit übersieht. Kein Staat kann Sittlichkeit oder religiöses Empfinden erzeugen oder erzwingen, ebensowenig wie er es unterdrücken kann, denn dies sind menschlich-innerliche Vorgänge, auf die der Staat mit seinen äusseren Machtmitteln keinen Einfluss hat. Welche Gefahren diese Verkennung der Grenzen für Staat und Gesellschaft mit sich bringen kann, zeigt in erschreckender Deutlichkeit die Geschichte Europas. Die Greuel des dreissigjährigen Krieges, das Schreckensregiment der päpstlichen Inquisition, die grausame Vertreibung vieler Tausender von Familien aus ihrer Heimat und manches andere wäre unsern Ländern erspart geblieben, hätte den staatlichen Machthabern nicht die Einsicht in die Grenzen staatlicher Wirksamkeit gemangelt. Wo die Staatsgewalt sich berufen gefühlt hat, die von der Kirche geforderten Massregeln durchzusetzen, da war nicht nur völlige Vernichtung der geistigen Freiheit die Folge, sondern die Staaten selbst wurden unfrei, wurden Vasallen der Kirche. Der von Stahl im 19. Jahrhundert unternommene Versuch, das mittelalterliche Verhältnis von Staat und Kirche wieder herzustellen, ging darauf hinaus, den Staat von neuem in Unterordnung unter die Kirche zu bringen und eine Vermengung kirchlicher und staatlicher Aufgaben herbeizuführen.

Liegt der Hauptfehler der eudaimonostischen und der ethischen Theorie in zu grosser Ausdehnung der staatlichen Zwecke, so verfällt die Rechtstheorie in den entgegengesetzten, indem sie, in der Tendenz, die Staatszwecke möglichst zu begrenzen, diese viel zu sehr einengt. Wird in dem ersten Falle das Individuum dem Staate geopfert, so opfert die Rechtstheorie den Staat dem Individuum.[2] Es wurde bereits erwähnt, dass der Rechtszweck mit allen Theorien häufig verbunden wurde; es hat auch nie Staaten gegeben, welche die Aufgabe der Rechtssetzung und Rechtsverwirklichung nicht gekannt hätten. Aber den Staat nur als eine Rechts- und Schutzanstalt zu betrachten ist viel zu dürftig[3] und ein Blick auf die Staatengeschichte zeigt, dass solche Staaten nie existiert haben; sie könnten auch gar nicht bestehen, denn jeder Staat ist gezwungen, zur eigenen Sicherheit und zur Selbsterhaltung Tätigkeiten zu üben, die schon nicht mehr unter den Rechtszweck subsumiert werden können. Es heisst das Wesen des Staates vollständig verkennen, wenn man ihm nur den Rechtszweck zuspricht, ihn zu einer reinen, nakten Schutzanstalt, zur Schlözer’schen Brandkasse degradiert.

Hingegen ist nicht zu leugnen, dass die Rechtstheorie in der Formulierung, die ihr Ende des 18. Jahrhunderts gegeben wurde, bei der Überwindung des Polizeistaates eine grosse Rolle gespielt hat. Sie hat über das Ziel hinausgeschossen, weil sie eben eine Kampftheorie war, hat aber ihre


  1. Vergl. die Widerlegung der Theorie bei Hinschius, Allgemeine Darstellung der Verhältnisse von Staat und Kirche in Marquardaens Handbuch I. 1. S. 240 ff.
  2. Jellinek, Allgemeine Staatslehre S. 241.
  3. Richtige Bemerkungen gegen den extremen Rechtsstaat schon bei Murhard, a. a. O. S. 142.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 61. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/81&oldid=- (Version vom 10.7.2021)