Seite:Handbuch der Politik Band 1.pdf/77

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1


3. Die Rechtstheorie.

Die Rechtstheorie kann man, wie bereits einmal kurz erwähnt, als Reaktion auf die die Staatsgewalt schrankenlos erweiternde Wohlfahrtstheorie ansehen; sie ist ein Protest gegen die Allgewalt des Staates und will dem Staatszweck enge und scharfe Grenzen ziehen. Zur Zeit des absoluten Regimes war die Teilnahme am politischen Leben im Staate auf eine verschwindend kleine Zahl von Individuen beschränkt, für welche es gegenüber dem Untertanen so gut wie keine Rechtsschranken gab; die grosse Masse der Bevölkerung war also der Willkür der Herrschenden schlechthin preisgegeben. Dies musste umso drückender empfunden werden, als unter dem Einfluss der Wohlfahrtstheorie die allumfassende Tätigkeit des Staates eine weitgehende Bevormundung des Volkes einführte und die persönlichen Angelegenheiten der Individuen in den Bereich staatlicher Fürsorge zog. So war das Postulat der Rechtstheorie, das staatliche Handeln in feste Grenzen zu bannen, durchaus berechtigt und man erwartete von seiner Erfüllung die Überwindung der bedrückenden Polizeigewalt. Die neue Formulierung der Rechtstheorie, die sich allerdings in ihren Anfängen bis ins Altertum zurückverfolgen lässt, hat also in bewusstem Gegensatz zur Wohlfahrtstheorie stattgefunden. Dies zeigt sich schon darin, dass alle Vertreter derselben die Wohlfahrtstheorie bekämpfen, sie als völlig ungeeignet darstellen und durch die Rechtstheorie abgelöst sehen wollen.

Die Theorie sagt, Zweck des Staates sei es, das Recht zu verwirklichen, der Staat solle Rechtsstaat sein und sich um die Glückseligkeit des Einzelnen in keiner Weise kümmern.

Dass die Verwirklichung des Rechts eine der Staatsaufgaben sei, ist wiederholt auch von anderen Theorien anerkannt worden, aber sie wurde nie besonders hervorgehoben. Cicero nennt sie neben der salus populi und wenn die Naturrechtslehrer schon im 17. Jahrhundert die Sicherheit als Entstehungsursache und Zweck des Staates angeben, so war damit auch die Rechtssicherheit, der Rechtsschutz gemeint. So hebt, wie erwähnt, Locke den Schutz der Privatrechtssphäre besonders hervor.

Als bedeutendster Vertreter der neu formulierten, extremen Rechtstheorie gilt Kant. Er erklärt das Glückseligkeitsprinzip für verderblich und verwerflich, weil es, wie man am Polizeistaat sieht, zur Willkürherrschaft führen muss, denn der Souverän will das Volk nach seinen Begriffen glücklich machen und wird zum Despoten, das Volk aber, das sich den Anspruch auf eigene Glückseligkeit nicht nehmen lassen will, wird zum Rebellen. Er definiert den Staat als „die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“;[1] das Gesetz habe nur den Zweck, ein geordnetes Zusammenleben der Menschen zu gewährleisten.

Neben Kant treten noch zahlreiche hervorragende Schriftsteller jener Zeit energisch für den Rechtszweck zur Bekämpfung des Polizeistaates ein, unter ihnen Fichte,[2] W. v. Humboldt,[3] A. Feuerbach[4]. Letzterer sagt:[5] „Wir treten in den Staat nicht um der Glückseligkeit, sondern um der Gerechtigkeit willen. . . . . . . Denn Glückseligkeit kann nie der Zweck einer bürgerlichen Gesellschaft sein, weil sie nie diesen Zweck erreichen kann.“ Humboldt betont besonders die durch den Staat nach allen Richtungen zu gewährende Sicherheit. Erwähnt sei ferner Th. Schmalz:[6] „Die Sicherheit ihrer angebornen und erworbenen Rechte vereinigt die Menschen in bürgerliche Gesellschaft. Die Sicherheit ist der einzige Zweck dieser Gesellschaft.“ Nach Zachariae[7] sollen die Menschen trachten, dass Gerechtigkeit unter ihnen herrsche. Aretin[8] erklärt, Rechtsherrschaft und Wohlfahrt seien zwei Staatszwecke, die einander aufheben, man könne also nicht beides vom Staate verlangen. „Die Rechtsherrschaft vom Staate


  1. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. § 45.
  2. Grundlage des Naturrechts nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre. (1796). I. Teil, III. Hauptstück 3. Kap. § 16.
  3. Ideen zu einem Versuche, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen.
  4. Anti-Hobbes, oder über die Grenzen der höchsten Gewalt und das Zwangsrecht der Bürger gegen den Oberherrn. (1797).
  5. Anti-Hobbes. S. 74.
  6. Erklärung der Rechte des Menschen und Bürgers. (1798) S. 114 f.
  7. Vierzig Bücher vom Staate. I. (1820) S. 212 vergl. ferner S. 230 ff.
  8. Staasrecht der konstitutionellen Monarchie II. 1. (1827) S. 178 f.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/77&oldid=- (Version vom 9.7.2021)