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Hat die naturrechtliche Lehre den Staatszweck zu sehr eingeengt, so dehnte ihn die eudaimonistisch-utilitarische Theorie ins Schrankenlose aus. Als Reaktion folgte auf sie eine abermals zu weit gehende Beschränkung durch die Rechtstheorie. Diese wichtigen Lehren so wie einige neue und alte, die zu neuer Blüte kamen, sind im folgenden noch näher zu untersuchen. Erst nach Überwindung der spekulativen Methode in den Staatswissenschaften, die sich stets an einen Idealstaat klammerte und die tatsächlichen Verhältnisse nicht berücksichtigte, wandte man sich den realen Verhältnissen und bestehenden Staaten zu, um nach ihren Aufgaben zu forschen.

§ 2. Die einzelnen Zwecktheorien.

1. Die eudaimonistisch-utilitarische Theorie.

Die eudaimonistisch-utilitarische Theorie sagt, der Staat habe den Zweck, für das allgemeine Beste seiner Glieder zu sorgen. Der Satz enthält, wie es auf den ersten Blick scheint, eine banale Selbstverständlichkeit; tatsächlich ist er allen Zeiten wohl bekannt und in allen Schulen mit grösserer oder geringerer Deutlichkeit zu finden. Die allgemeine Wohlfahrt kann als Zweck auch mit allen anderen Zwecken verbunden und alle anderen können diesem einen, höchsten Zweck untergeordnet werden. Glückseligkeit soll der Staat nach Plato und Aristoteles nicht minder bezwecken wie nach Cicero, der christlichen Lehre, nach Hobbes[1] und vielen anderen. Aber im 18. Jahrhundert findet die Lehre zum erstenmal gründliche Bearbeitung und eine Formulierung, die sie zur höchsten Blüte bringt. Der Wohlfahrtszweck wird gegenüber allen anderen Staatstätigkeiten derartig in den Vordergrund gerückt, dass ihm überhaupt das gesamte Handeln des Staates untergeordnet und alles nur im Hinblick auf diesen obersten Zweck geübt wird. Die Theorie ist im extremen Sinn expansiv, d. h. sie steigert die Macht des Staates ins Ungemessene, denn ihm allein kommt die Entscheidung darüber zu, was zum Wohle der Gesamtheit sei und was nicht. So wird die Lehre zum Evangelium für den absoluten Staat, für die absolute Monarchie sowohl wie für die Demokratie.

Ihre Formulierung im 18. Jahrhundert knüpft man in der Regel an den Namen Christian Wolff, der einer ihrer wärmsten Verteidiger ist. Er vertritt die extremste Form der Wohlfahrtstheorie, die sich durch seine sämtlichen staatswissenschaftlichen Werke hindurchzieht. Er führt den Gedanken, dass das allgemeine Wohl alle Handlungen der Staatsbehörden zu bestimmen habe, bis in die kleinsten und nebensächlichsten Angelegenheiten durch und rechtfertigt jeglichen Eingriff des Staates in das Privatleben der Untertanen. Am eingehendsten befasst er sich damit in seiner „Politik“.[2] Die Untertanen haben unbedingt zu gehorchen, denn sie sind prinzipiell beschränkt von Verstand und können insbesondere das allgemeine Beste vom eigenen Wohl nicht unterscheiden. „Und ist der Gehorsam um so viel mehr nöthig, weil die Unterthanen nicht immer in dem Stande sind, zu urtheilen, was zum gemeinen Besten gereichet, weil sie von der Beschaffenheit des gantzen gemeinen Wesens und seinem wahren Zustande nicht genügsame Erkäntnis haben. Sie urtheilen gemeiniglich bloss darnach, ob es ihnen vortheilhafft sey, was befohlen wird, oder nicht. Allein es pfleget gar offt zu geschehen, dass dem gantzen gemeinen Wesen erspriesslich ist, was einem oder dem andern von den Unterthanen nachtheilig befunden wird. Im gemeinen Wesen aber muss die gemeine Wohlfahrt der besonderen vorgezogen werden.“[3] So begründet Wolff die Omnipotenz des Staates aus seinem Zweck. Er musste auf Grund seiner Auffassung vom Staat und der Gesellschaft zu dieser Zwecktheorie kommen. „Wenn Menschen“, sagt er an einer anderen Stelle desselben Werkes[4], „mit einander eines werden, mit vereinigten Kräften ihr Bestes worinnen zu befördern; so begeben sie sich mit einander in eine Gesellschaft. Und demnach ist die Gesellschaft nichts anderes als ein Vertrag einiger Personen mit vereinigten Kräften ihr Bestes worinnen zu befördern . . . . . . Da wir nun diese Wohlfahrt durch die Gesellschaft zu erhalten gedencken ; so ist die Absicht der Gesellschaft und die Gesellschaft ein Mittel, die gemeine Wohlfahrt


  1. De cive. XIII. 2, 3, 6.
  2. Vernünfftige Gedancken von dem gesellschafftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen. (1725).
  3. A. a. O. § 433. Vergl. ferner § 218.
  4. §§ 2 ff.
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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 53. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/73&oldid=- (Version vom 9.7.2021)