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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Glückseligkeit erreichen kann und am Ende aller Tage in die Hölle fahren wird. Davor kann der irdische Staat nur bewahrt werden, wenn er sich in den Dienst der Kirche, der civitas coelestis stellt und dieser dient. So gibt es zwei Sorten von Staaten, charakterisiert durch ihre Ziele.[1] Der Staat, der nicht zu einem latrocinium, zu einem Raubnest werden will, muss sich auf die Kirche stützen und nach ihren Vorschriften sein Handeln bestimmen; dann, sagt er, sind die christlichen Kaiser glücklich zu nennen, „si suam potestatem ad Dei cultum maxime dilatandum majestati eius famulam faciunt; si Deum timent, diligunt, colunt; si plus amant illud regnum, ubi non timent habere consortes . . . .[2]

Der bedeutendste mittelalterliche Schriftsteller auf diesem Gebiet, Thomas von Aquino, weicht mit seiner Auffassung des Staates in einzelnen wesentlichen Punkten von der älteren Doktrin ab. Er erklärt den irdischen Staat nicht, wie Augustinus, für ein Erzeugnis der Sünde, sondern sieht in ihm ein mit Naturnotwendigkeit entstandenes Gebilde,[3] veranlasst durch die humana indigentia, die gegenseitige Bedürftigkeit der Menschen; darin ist Thomas mit Aristoteles einig. Es ist die irdische Bestimmung des Menschen, gesellig zu leben, Gott hat ihn so geschaffen, er kann nicht anders.[4] Und selbst im Stande der Unschuld, wenn ihn die Menschen sich bewahrt hätten, wäre das dominium politicum, das staatliche Regiment entstanden.

Wie diese psychologische Rechtfertigung des Staates bei Thomas von Aquin offenbar auf Aristoteles beruht, so auch seine Lehre vom Zweck des konkreten Staates. Sein Zweck soll sein, die Menschen zur Glückseligkeit zu führen, die nur erreicht werden kann durch Betätigung der Tugend. In einem wichtigen Punkte aber weicht der Aquinate vom Stagiriten ab und erinnert an Plato, indem er, im Banne der christlichen Theologie stehend, den Staat als Mittel für die transzendente Bestimmung des Menschen ansieht. Er verlegt also den letzten Zweck des Staates ins Jenseits, analog dem überirdischen Endziel des Individuums, das gleichfalls im Jenseits liegt und in der Anschauung Gottes besteht.[5] Damit wird dem Staat eine religiöse Aufgabe gestellt, er wird ebenso wie der Platonische Staat zur Kirche. Im Gegensatz zu letzterem aber verliert er seine Selbständigkeit, denn nicht mehr er selbst soll sich seine Sittengesetze geben können, sondern die christliche Kirche diktiert sie ihm. In dieser Thomistischen Forderung spiegelt sich die ganze Herrschsucht der mächtig gewordenen katholischen Kirche wieder.[6] Nach Gregor VII. ist das Herrschen der weltlichen Fürsten ein todeswürdiges Verbrechen.

Dass dieser Staatszweck absolut sei, für alle Staaten und alle Zeiten derselbe, entspricht dem theologischen Charakter dieser Staatslehre und dem katholischen Staatsideale, dem Weltstaat unter päpstlicher Herrschaft. Es soll ein Universalstaat im extremsten Sinne des Wortes sein, denn er umfasst nicht nur das Diesseits, sondern auch das Jenseits und beherrscht nicht nur die gegenwärtig lebenden, sondern auch die gewesenen und alle zukünftigen Menschen.[7] Somit geht die Thomistische Konstruktion noch weit über die katholische Auffassung der Zwei-Schwerter-Theorie, die sie übrigens gänzlich ignoriert, hinaus. Dass die diesem Idealgebilde zugesprochenen Aufgaben mit den Aufgaben eines irdischen Staates so wenig zu tun haben wie dieses Gebilde selbst mit dem Staat, ist klar, und die Geschichte hat gezeigt, wie wenig Erfolg alle Versuche auf praktische


  1. De civitate Dei. XV. c. 2.
  2. De civ. Dei. V. c. 24. – Vergl. über die verschiedenen Auffassungen der beiden Staaten des Augustinus neuestens Scholz, Glaube und Unglaube in der Weltgeschichte. (Leipzig, 1911) S. 70, 83 ff.
  3. Summa theologiae I. I. qu. 96. art. 4: „.... homo naturaliter est animal sociale.“
  4. De regimine principum ad regem Cypri I. 1: „Naturale autem est homini, ut sit animal sociale et politicum, in multitudine vivens, magis etiam quam omnia alia animalia: quod quidem naturalis necessitas declarat. Aliis enim animalibus natura praeparavit cibum, tegumenta pilorum, defensionem: ut dentes, cornua, ungues vel saltem velocitatem ad fugam. Homo autem institutus est nullo horum sibi a natura praeparato, sed loco omnium ei data est ratio..... Est igitur homini naturale, quod in societate multorum vivat.“
  5. De reg. princ. I. 14. – Vergl. Vilmain, Die Staatslehre des Thomas von Aquino im Lichte moderner politisch-juristischer Staatsauffassung. (Leipzig 1910) S. 44 f. Froschhammer, Die Philosophie des Thomas von Aquino. S. 484 ff. J. J. Baumann, Die Staatslehre des h. Thomas von Aquino.
  6. Vergl. Friedberg, Die Grenzen zwischen Staat und Kirche I. S. 35 ff.
  7. Vilmain, a. a. O. S. 141. – Über ähnliche Ausführungen an anderen Stellen bei Thomas vergl. Baumann, a. a. O. S. 107 ff.
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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 51. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/71&oldid=- (Version vom 9.7.2021)