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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

In neuerer Zeit gelangte sie zu besonderer Blüte im Laufe des 18. Jahrhunderts; es war die eudaimonistisch-utilitarische Theorie, die Theorie des Polizeistaates, die auch praktisch von grosser Bedeutung wurde. Ihr folgte, als Reaktion zu Ende des Jahrhunderts die Rechtstheorie, die nicht minder stark die politischen Gemüter beschäftigte. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aber wird die Zweckfrage in der Literatur stark vernachlässigt; sie war, wie die allgemeine Staatslehre überhaupt, durch oberflächliche und dilettantenhafte Behandlung in Misskredit geraten; von Juristen wird sie nahezu gänzlich ignoriert, hingegen häufiger von Nationalökonomen in ihren Systemen erörtert.

Dieser Stand der Literatur enthebt mich der Aufgabe, hier ein besonderes Verzeichnis anzureihen. In den meisten Werken des 18. und 19. Jahrhunderts, die ein System der Politik, des Staatsrechts, der Rechtsphilosophie usw. enthalten, findet man auch ein Kapitel über den Staatszweck. Genannt sei hier nur die einzige Monographie, die meines Wissens über das Thema existiert:

Murhard, Der Zweck des Staates. Göttingen 1832.

Das Buch enthält die bis dahin erschienene Literatur sehr ausführlich, aber wenig übersichtlich. Im übrigen beschränke ich mich auf die Angabe der wichtigsten einschlägigen Werke im Text. –

Im folgenden wird zunächst ein geschichtlicher Überblick über die in den verschiedenen Zeitperioden entstandenen Zwecktheorien gegeben; daran schliesst sich eine Darstellung der einzelnen Theorien und eine kritische Würdigung der wichtigsten derselben; zum Schluss werden die dem modernen Staate und der neueren Forschung entsprechenden Zwecktheorien entwickelt.

§ 1. Historischer Überblick über die Zwecktheorien.

1. Plato. Aristoteles. Cicero.

Die Hellenen, die in ihren Staatswissenschaften über das Zeichnen von Idealstaaten eigentlich nicht hinauskamen, haben den Staaten auch ideale Zwecke gesetzt. Den grossen Philosophen, die sich mit diesen Problemen befassten, namentlich Plato und Aristoteles hat nicht nur der praktische Blick für die Bedürfnisse eines Staates vollständig gefehlt, sondern sie haben auch von Grund aus die Grenzen staatlicher Macht verkannt, ein Vorwurf, den man mit demselben Recht auch manchem führenden Geist späterer Jahrhunderte machen kann. Wären die der hellenischen Philosophie entstammenden Idealstaaten zu verwirklichen gewesen – woran ihre Konstrukteure allerdings selbst zweifelten – , so wären sie entweder polizeistaatähnliche, unter strengster Sittenordnung stehende, lediglich auf Selbsterhaltung bedachte Verbände geworden, oder aber, ihren transzendenten Zwecken entsprechend Heilsanstalten, Kirchen nach unseren heutigen Begriffen. Damit steht nicht im Widerspruch, dass sich in ihren Schriften mancher praktische Vorschlag findet, von denen einzelne mehr als zwei Jahrtausende später erst verwirklicht werden, wie z. B. das stehende Heer oder die allgemeine Schulpflicht des Platonischen Staates.

Platos Staatsideal, wie es in der Politeia gezeichnet ist, verdankt seine Gestalt den damals in Athen tatsächlich herrschenden politischen und sozialen Zuständen. Plato wollte zum Reformator seiner Vaterstadt werden, in der die Demokratie gründlich abgewirtschaftet hatte. Neben Luxus und Übermut herrschte Armut und Elend und die unmittelbare Ursache davon sieht Plato darin, dass der Staat über seine Grenzen hinausgegangen, dass er nicht Polis geblieben sei; mit dem steigenden Handel sei die Erwerbsbegierde im Lande gewachsen und damit seien die verderblichen Klassengegensätze entstanden, die sich mit den damaligen einfachen Lebensverhältnissen nicht mehr vereinbaren liessen. Politisch macht Plato für diese Zustände die demokratische Staatsform verantwortlich, die nach ihren Prinzipien keine sachverständige Leitung der Staatsgeschäfte verbürgen könne. „Wenn ein jeder berufen ist und sich für berufen hält, an den wichtigsten Entscheidungen des öffentlichen Lebens unmittelbar mitzuwirken, wenn die höchste und schwierigste aller Aufgaben, die Staatsleitung nicht durch sachkundig geschulte Männer sondern von jedem Beliebigen gelöst werden soll, den Volksgunst und Vordringlichkeit emporheben, so ist ein Hin- und Herschwanken des Staatsschiffes, dem der rechte Steuermann mangelt, unvermeidlich[1]. . . . . .


  1. Welche hohe Meinung Plato von der Leitung eines Staates hat, geht unter anderm auch aus dem Dialog „Der Staatsmann“ hervor.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 48. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/68&oldid=- (Version vom 7.7.2021)