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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

allerdings besonders wichtige Seite des Staatsbegriffes erfasst werde. Gemeinsam ist allen juristischen Lehren vom Staate der Gedanke, dass zwischen ihm und den seiner Herrschergewalt unterworfenen Personen ein Rechtsverhältnis mit wechselseitigen Rechten und Pflichten bestehe, dass auch der Herrscher Rechtsnormen unterworfen sei und dass er seine Gewalt nur im Namen des Staates ausübe. Meist[1] fällt diese Lehre zusammen mit der sogenannten Persönlichkeitstheorie, der zufolge der Staat den Charakter einer juristischen Person besitzt, mag die Grundlage derselben als natürliche Verbandseinheit (organische Theorie) oder als teleologische Einheit (Persönlichkeitstheorie im engeren Sinne) formuliert werden.[2]

Es ist nicht zu bezweifeln, dass diese juristische Staatstheorie den Vorstellungen durchaus entspricht, welche die Kulturstaaten der Gegenwart beherrschen. Ob sie aber geeignet ist, die Grundlage für eine allgemeine Theorie des Staates abzugeben, muss denn doch bezweifelt werden. Der Nachweis, dass in Wirklichkeit zu allen Zeiten das Verhältnis zwischen der Staatsgewalt und den Staatsbürgern den Charakter eines Rechtsverhältnisses besass, dass auch der Inhaber der Herrschergewalt durch das Recht gebunden war, wird wohl schwerlich erbracht werden können.[3] Den grossen Kulturstaaten des alten Orients ist der Gedanke offensichtlich ganz fremd, dass zwischen dem Herrscher und den Untertanen ein Rechtsverhältnis bestehe. Aber auch die griechische Staatenwelt und das römische Imperium enthalten nur schwache Spuren der rechtsstaatlichen Idee. In der Staatslehre des Aristoteles, welche einen so hohen Rang in der Geschichte der politischen Wissenschaft einnimmt, wird man nur wenige Bemerkungen finden, welche als eine juristische Auffassung des Staates gedeutet werden können. Soll man wirklich annehmen, dass diesem umfassenden Geiste das entscheidende Merkmal des Staatsbegriffes völlig entgangen sei ? Das ist höchst unwahrscheinlich; vielmehr liegt es nahe zu vermuten, dass die wirkliche Staatenwelt, die er so gründlich erforscht hatte, ihm keinen Anlass bot, den Staat als Rechtsbegriff zu erfassen.[4]

Wenn man dennoch an dieser juristischen Auffassung festhalten wollte, dann wäre man genötigt, den Geltungsbereich des Staatsbegriffes auf die heutige europäisch-amerikanische Staatenwelt einzuschränken; es würde dann die grosse geschichtliche Entwicklung bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts herausfallen. Ein solches Verfahren kann aber vom wissenschaftlichen Standpunkt nicht empfohlen werden. Unter diesen Umständen kann daher die juristische Formulierung des Staatsbegriffes nur als eine historische Kategorie in der staatlichen Entwicklung, keineswegs aber als ein notwendiger Bestandteil des allgemeinen Staatsbegriffes aufgefasst werden. Wir können also nur sagen, dass der Staat in der Gegenwart, vielleicht in der Zukunft, auch ein Rechtsbegriff sei.

V. Energetische Theorie.

Die juristische Theorie des Staates kann aber auch aus dem Grunde nicht als eine das Wesen dieser Einrichtung erfassende Begriffsbestimmung angesehen werden, weil sie doch immer


  1. Anders Loening a. a. O. Er erblickt im Staate ein Rechtsverhältnis. Jellinek meint, dass es noch eine dritte Möglichkeit einer juristischen Auffassung des Staates gebe, der Staat als Rechtsobjekt (S. 157). Das ist ein Irrtum; hierin liegt eine Negation von Rechtsbeziehungen zwischen dem Herrscher und den Beherrschten.
  2. Gegen die Konstruktion des Staates als juristische Person erklärt sieh mit beachtenswerten Argumenten Otto Mayer in der oben zitierten Festschrift; vgl. auch Dugnit a. a. O.
  3. Loening anerkennt S. 694, dass in der absoluten Monarchie der Herrscher seine Gewalt rechtlich unbeschränkt auszuüben hat. Bezüglich Russlands bemerkt er S. 720, dass hier bis 1905 die reine Form der unbeschränkten Monarchie bestand; nicht einmal die Thronfolge-Ordnung habe den Kaiser gebunden. Wie stimmt es aber damit, dass (S. 704) der Staat stets ein Rechtsverhältnis zwischen dem Inhaber der Gewalt und der Beherrschten sei, dass (S. 713) auch der Herrscher dem Rechte unterworfen sei? War also denn Russland bis 1905 kein Staat?
  4. Jellinek erklärt einmal (S. 361) es als eine historische Frage, ob der Staat durch das Recht gebunden sei. Das ist ganz richtig, aber im Widerspruch mit seiner Darstellung auf S. 132 ff, wonach der Staat stets ein Rechtsbegriff sei. „Die juristische Erkenntnis des Staates hat zum Gegenstande die Erkenntnis der vom Staate ausgehenden, seine Institute und Funktionen zu beherrschen bestimmten Rechtsnormen.“ (S. 132.)
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 41. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/61&oldid=- (Version vom 4.7.2021)