Seite:Handbuch der Politik Band 1.pdf/60

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Anhänger verschafft hat.[1] Die Hauptgedanken dieser Theorie können in folgender Weise zusammengefasst werden. Es gibt neben den physischen Personen Verbandspersonen, welche zwar nicht sinnlich wahrnehmbar, aber wie jene wirkliche, lebendige Wesen sind. Ihre Substanz ist der allgemeine Wille, welcher aus den Willenssplittern der einzelnen Menschen gebildet wird und eine eigene reale Wesenheit besitzt; dadurch ist der Verband zu einem einheitlichen Leben befähigt. Die höchste und umfassendste dieser realen Verbandspersonen ist der Staat; er hat die machtvolle Durchführung des allgemeinen Willens zum Inhalte, lässt aber neben sich den Willen der einzelnen Menschen und der dem Staate eingegliederten Körperschaften bestehen. Gegen diese Auffassung ist häufig das Bedenken erhoben worden, dass die Wissenschaft nur sinnlich wahrnehmbare Objekte anzuerkennen in der Lage sei, dass daher die Annahme solcher von den Einzelmenschen verschiedenen, lebendigen Verbandswesen in das Gebiet des Transzendenten, also des Glaubens gehöre.[2] Diese Einwendung ist unbegründet, da alles Psychische, auch das des Einzelmenschen nur aus seinen Wirkungen erkannt werden kann.[3]

Mehr Beachtung verdient die Behauptung, dass der Gesamtwille auch als psychische Realität in der Erfahrung nicht gegeben sei, dass die Wirkungen, welche als Emanationen des Gemeinwillens von der organischen Theorie behauptet werden, sich bei näherer Betrachtung nur als Willensakte einzelner physischer Personen darstellen. Allein namhafte Psychologen der Gegenwart nehmen keinen Anstand, den Gesamtwillen als eine psychische Realität anzuerkennen und gewähren damit der organischen Staatslehre eine wissenschaftliche Basis.[4] Entscheidend dürfte jedoch die Erwägung sein, dass auf Grund der geschichtlichen Erfahrung eine gemeinsame Willensrichtung der Staatsbürger als Grundlage des Gesamtwillens nur in jenen Staatsformen festgestellt werden kann, bei welchen in den wichtigsten Aktionen des Staates auf eine Mitwirkung des Volkes, mindestens in der Gestalt der öffentlichen Meinung Rücksicht genommen wird.[5] In der absoluten Monarchie, aber auch in der reinen Aristokratie wird der Wille des Staates gewiss nicht in der Weise gebildet, dass er sich als eine Zusammenfassung der Individualwillen darstellt. Mit anderen Worten, die organische Staatslehre enthält überwiegend ein ideales Moment, dem sich der moderne Kulturstaat zusehends nähert; sie versagt aber, wenn man die älteren Epochen des Staatslebens, insbesondere die despotischen Staatsformen in Betracht zieht, und kann daher als eine allgemeine Theorie des Staates schwerlich Richtigkeit haben.[6]

IV. Juristische Theorie.

Die juristische Theorie des Staates sucht sein Wesen in der Weise zu erfassen, dass er als Rechtsbegriff erscheint; dabei wird von der Mehrzahl derjenigen, welche diese Auffassung vertreten, zugegeben, dass damit nicht das ganze Wesen des Staates erschöpft sei,[7] sondern nur eine,


  1. O. Gierke, die Grundbegriffe des Staatsrechts 1874, das deutsche Genossenschaftsrecht, 1868–1881, die Genossenschaftstheorie und die deutsche Rechtssprechung 1887, das Wesen der menschlichen Verbände 1892.
  2. So besonders Loening a. a. O. 699 und Dugnit a. a. O.
  3. Auch der Einzelwille ist nicht unmittelbar wahrnehmbar. Es kann sich also nur darum handeln, ob genügende Gründe aus der Erfahrung zu entnehmen sind, um auf die Existenz eines Gesamtwillens schliessen zu können.
  4. So bes. W. Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie 5. Aufl. III, S. 277, System der Philosophie 2. Aufl. S. 624, 626, Völkerpsychologie, 2. Aufl. I, 1, S. 7 ff.
  5. Darauf weist auch hin Preuss „über Organpersönlichkeit“ in Schmollers Jahrbuch 1902 II S. 125, welcher in der öffentlichen Meinung eine charakteristische Erscheinungsform des Gemeinwillens erblickt.
  6. Die organische Theorie enthält das ideale Moment, dass sich der Wille des Staates möglichst den Interessen der Staatsglieder anpassen solle; darauf hat R. Schmidt a. a. O. I S. 236 aufmerksam gemacht.
  7. So die herrschende Meinung, wie sie namentlich durch Jellinek vertreten wird; sie unterscheidet einen sozialen und einen juristischen Staatsbegriff. Hingegen erklärt Loening S. 694, dass der Staatsbegriff ein einheitlicher u. zw. ein Rechtsbegriff sei. Dieselbe Auffassung vertritt neuestens Kelsen a. a. O., welcher (S. 163 ff) sowohl einen realen Gesamtwillen des Staatsvolkes als auch eine teleologische Einheit desselben verwirft und erklärt, dass durch einen rein juristischen Akt die heterogensten Elemente zum Staatsvolke vereinigt werden; die Gesellschaft sei eine davon ganz verschiedene, an die Staatsgrenzen nicht gebundene, innerhalb derselben vielfach gespaltene geistige Gemeinschaft. Ja, er geht so weit zu bezweifeln, (S. 173) dass es irgend einen gemeinsamen Zweck gibt, den alle innerhalb der Staatsgrenzen vereinigten Menschen verfolgen. Allein das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit der Bürger eines Staates, das Streben nach gemeinsamen Zielen, die Opferwilligkeit bei den Staat bedrohenden Gefahren, sind elementare Tatsachen der Weltgeschichte, welche nicht ignoriert werden dürfen.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 40. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/60&oldid=- (Version vom 4.7.2021)