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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Richtungen es zu tun pflegen, von Übertreibungen nicht freigeblieben sind.[1] Dasselbe gilt auch von der bekannten These des wissenschaftlichen Sozialismus, welche im Staate lediglich einen Niederschlag der wirtschaftlichen Machtverhältnisse erblickt. Diese Theorie hat insofern eine innere Verwandtschaft mit der organischen Staatslehre, als sie die ganze politische Organisation als notwendige Folge sozialer und geschichtlicher Faktoren auffasst. Die praktisch-politischen Konsequenzen dieser Lehre sind freilich gänzlich verschieden von denjenigen der organischen Staatsauffassung, welche in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts vorgeherrscht hat.

Die Lehren der historischen Schule sowie der Philosophen Schelling und Hegel vom „Staat als Organismus“ waren zum grossen Teil gegen die naturrechtlichen Theorien gerichtet, welche den Staat als Kunstwerk, als Werk vernünftiger Überlegung angesehen und der Revolution das wissenschaftliche Werkzeug geliefert haben. Die organische Auffassung sollte jeden gewaltsamen Eingriff in die bestehenden staatlichen Zustände, jede künstliche Ausgestaltung des politischen Lebens nach allgemeinen Idealen als naturwidrig und gefährlich bezeichnen; die organische Theorie dieser Zeit trägt daher einen entschieden konservativen Charakter an sich. Wenn die radikalen Soziologen der Gegenwart zu ganz anderen Folgerungen gelangen, indem sie eine gänzliche Umwälzung der bestehenden staatlichen Verhältnisse als Ziel verkündigen, so ist dies mit dem theoretischen Ausgangspunkte, der Naturbedingtheit der politischen Organisation und der Einflusslosigkeit menschlichen Wollens im sozialen Organismus, schwer zu vereinigen.

Die organische Theorie im engeren Sinne begnügt sich aber nicht damit, den Staat als notwendiges Produkt bestimmter geschichtlicher, geographischer, ethnologischer und ökonomischer Faktoren hinzustellen, sondern sie sucht das Wesen des Staates dadurch zu erfassen, dass sie ihn als einen Organismus erklärt. Eine mächtige Förderung erhielt diese im Keime schon der antiken Staatslehre geläufige Vorstellung durch die grossartige Entwicklung der biologischen Wissenschaft im neunzehnten Jahrhundert. Ihre Ergebnisse auf die menschliche Gesellschaft anzuwenden war das Hauptbestreben namhafter Denker, welche den Ausbau einer besonderen Wissenschaft, der biologischen Soziologie, in Angriff genommen haben.[2] So anregend auch dieser Versuch für die Gesellschaftswissenschaft im allgemeinen gewirkt hat, so kann doch der Ertrag für die eigentliche Staatslehre nicht gerade hoch veranschlagt werden. Neben einigen wirklich vorhandenen Ähnlichkeiten, welche man zwischen dem Staate und einem physischen Organismus finden kann, wie in dem Zusammenwirken der verschiedenen Glieder auf Grund einer Arbeitsteilung, zeigen sich doch auch erhebliche Unterschiede zwischen einem gesellschaftlichen und einem physischen Organismus. Dies tritt namentlich hervor in dem Mangel eines körperlichen Zusammenhanges der einzelnen Teile und in der Unbestimmtheit der Abgrenzung sozialer Organisationen; dazu kommt, dass die Begriffe von Wachstum, Krankheit, Tod und Fortpflanzung nur in höchst gezwungener Weise auf die staatlichen Organismen übertragen werden können.

Die Vertreter der biologischen Richtung zeigen übrigens eine grosse Unsicherheit in bezug auf die Frage, ob die Gesellschaft oder der Staat als Organismus aufzufassen sei. Beides anzunehmen ist offenbar unmöglich, da sonst zwei verschiedene, dieselben Glieder umfassende oder mindestens sich teilweise deckende Lebewesen konstruiert werden müssten, wofür die Pflanzen- und Tierwelt keine Analogie bietet. Daher entscheidet sich die Mehrzahl dieser Soziologen dafür, nur der Gesellschaft und nicht dem Staate die Eigenschaft eines Organismus zuzusprechen; der Staat selbst erscheint dann nur als besonderes Organ, z. B. als das Gehirn des gesellschaftlichen Organismus oder gar als Parasit desselben (Lester Ward). Von dieser Seite wird daher der Staatslehre kaum eine ernste Förderung zuteil.

Unabhängig von dieser biologischen Richtung wurde die organische Theorie des Staates als eines geistig-sittlichen Organismus von dem Philosophen Krause und seinen Schülern, namentlich aber von dem grossen Germanisten Otto Gierke in einer Weise ausgestaltet, welche ihr zahlreiche


  1. Eine ganz neue Richtung, welche auch für die Staatslehre bedeutungsvoll ist, hat K. Lamprecht eingeschlagen, indem er in seiner „Deutschen Geschichte“ die Abhängigkeit des jeweiligen Charakters der staatlichen Einrichtungen von dem nationalen Seelenleben, von der psychischen Grundstimmung des Zeitalters dargelegt hat.
  2. Ihre Hauptvertreter sind: H. Spencer, P. von Lilienfeld, A. Schäffle, R Worms.
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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 39. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/59&oldid=- (Version vom 4.7.2021)