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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

es auch zulässig, eine Idee vom Staate in Worte zu fassen, d. h. auszuführen, welche Merkmale der Staat an sich tragen soll. Eine solche Betrachtungsweise muss sogar, vom kulturgeschichtlichen Standpunkte, als höchst bedeutungsvoll bezeichnet werden. Derartige philosophische Staatsbegriffe haben in der Geschichte der Menschheit eine wichtige Rolle gespielt. Dennoch sind sie nicht geeignet, dem rein wissenschaftlichen Bedürfnisse Rechnung zu tragen, das auf die Erkenntnis der Wirklichkeit gerichtet ist. Dieses Bedürfnis kann nur durch Anwendung der induktiven Methode erfüllt werden, also in der Weise, dass alle konkreten hierhergehörigen Erscheinungen, wie sie uns die Weltgeschichte in einer überwältigenden Fülle darbietet, zusammengefasst werden. Es muss der Versuch gemacht werden, gemeinsame Merkmale aufzufinden und in einen abstrakten Begriff zusammenzufassen.

Dieses methodische Prinzip wird zwar in der Gegenwart ziemlich allgemein anerkannt;[1] allein in seiner praktischen Durchführung ergeben sich doch gewisse Schwierigkeiten. Zunächst ereignet es sich nicht selten, dass in die Definition des Staatsbegriffes ein Merkmal Aufnahme findet, welches, wenn auch vielleicht unbewusst;[2] ein ideales Moment enthält. Wenn z. B. in einer der neuesten Darstellungen der allgemeinen Staatslehre[3] in die Definition des Staates der Satz aufgenommen wird, dass der Staat den Schutz und die Beförderung der Interessen der Beherrschten zu seinem Zwecke habe, so dürfte hier wohl eine Verwechslung zwischen den Kategorien des Seins und des Sollens vorgenommen sein.[4] Allein auch abgesehen von solchen dem empirischen Staatsbegriffe fremdartigen Zusätzen bietet die Anwendung der reinen Induktion noch manche Gefahren. Es ist nämlich gar nicht so einfach, eine Abgrenzung des gewaltigen Materials vorzunehmen, welches einem empirischen Staatsbegriffe zugrunde gelegt werden soll. Jemehr Erscheinungen aus dem Sozialleben der Menschheit für diesen Zweck herangezogen werden, jemehr der Forscher auch die primitiven Kulturzustände mit in Betracht zieht, desto geringer wird naturgemäss die Zahl der gemeinsamen Merkmale für den zu bildenden Staatsbegriff.[5] Umgekehrt hat eine Ausscheidung aller gesellschaftlichen Bildungen, welche der Urzeit oder den nur halbzivilisierten Völkern angehören, zur Folge, dass der Staatsbegriff schärfer definiert, aber auch in seinem Geltungsbereiche bedeutend eingeschränkt wird.

Eine weitere Gefahr ist darin gelegen, dass unter den Merkmalen des Staatsbegriffes nicht selten ein einzelnes besonders hervorgehoben und zum entscheidenden Kriterium des Staatsbegriffes erhoben wird, während es in Wirklichkeit entweder überhaupt nicht bei allen staatlichen Bildungen festgestellt werden kann oder doch wenigstens nur in verkümmerter Gestalt vorzukommen pflegt. Daraus erklären sich die grossen Meinungsverschiedenheiten, welche selbst noch in der Gegenwart in bezug auf das Wesen des Staates bestehen, obwohl manche Irrtümer der älteren Staatslehre erkannt und vermieden worden sind.


  1. Jellinek S. 130 ff unterscheidet eine objektive und eine subjektive Betrachtungsweise des Staates, je nachdem die äusseren Vorgänge, welche sich in Zeit und Raum abspielen, oder die psychischen Akte, welche mit dem staatlichen Handeln verbunden sind, der Forschung zu Grunde gelegt werden. Diese Unterscheidung ist nicht glücklich formuliert. Jede wissenschaftliche Betrachtung muss objektiv sein; die psychischen Vorgänge, welche mit dem Staatsleben zusammenhängen, müssen ebenso objektiv festgestellt und verglichen werden, als die äusseren Geschehnisse. Subjektiv ist hingegen eine Untersuchung, wenn der Gesichtspunkt des Wertes zugrunde gelegt wird.
  2. Diese unbewusste Einwirkung von Zweck- und Wertgedanken ist ein charakteristisches Merkmal der Sozialwissenschaften; vgl. meine Schrift „Natur- und Kulturwissenschaften“ Leipzig 1903.
  3. Loening a. a. O. Übrigens ist dieser Artikel eine der besten Darstellungen der allgemeinen Staatslehre.
  4. Dass auch der organischen und der juristischen Staatstheorie ein ideales Moment zu Grunde liegt, wird unten gezeigt werden. Die soziologische Staatslehre enthält gewissermassen ein negatives Ideal; sie malt den Staat der Vergangenheit und der Gegenwart in den düstersten Farben.
  5. Dies ist die Verfahrungsweise von Ed. Meyer a. a. O., weshalb er z. B. das Gebiet nicht als Begriffsmerkmal des Staates anerkennt.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 36. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/56&oldid=- (Version vom 4.7.2021)