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Die Abstufungen des ungleichen Wahlrechts werden entweder durch Einteilung der Bevölkerung in Wählergruppen (Abteilungen, Kurien, Klassen: Klassenwahlrecht) oder durch Übertragung mehrerer Stimmen an einen Wähler (Plural-Wahl = Mehrstimm-Recht) oder durch ungleiche Wahlkreiseinteilung herbeigeführt. – Eine Wählerklasse kann allgemeine heissen. Trotzdem ist das Wahlrecht ungleich, wenn die Sonderklassen nicht nur ein verschwindendes Stimmgewicht besitzen.


IX. Wahlrechtssysteme. Es gibt deren vier: 1. zuerst beschränktes und ungleiches Wahlrecht; noch gilt es in Grossbritannien, Russland, beiden Reuss, Altenburg, Lübeck, Hamburg; dann allmählich entweder 2. beschränktes, aber gleiches Wahlrecht: in Deutschland nicht mehr vorhanden, aber in Ungarn-Kroatien, Luxemburg, Serbien, Italien (Analphabeten, d. h. wer nicht lesen und schreiben kann, wahlberechtigt erst mit 30 Jahren, vorher nur, wenn die Dienstpflicht erfüllt), oder 3. allgemeines, aber ungleiches Wahlrecht. Das System findet sich in Belgien und Österreich, für Deutschland gesetzlich in Preussen, Bayern, Sachsen, Baden, Hessen, Schwarzburg, Schaumburg-Lippe, Weimar, Meiningen, Lippe, Anhalt, Bremen, Braunschweig, Oldenburg, Koburg-Gotha; tatsächlich im Reiche, weil die Wahlkreise der Bevölkerungsziffer nach zu ungleich geworden sind. Die Ungleichheit besteht gewöhnlich in Klassenwahl; im Reich, in Österreich, Bayern und Baden in der Wahlkreiseinteilung (im Reich und Bayern das Land, in Baden die Städte bevorzugt); in Preussen in Klassenwahl und Wahlkreisziffer, in Sachsen und Oldenburg in Pluralwahl und Wahlkreiseinteilung, in Hessen nur in Mehrstimmrecht. In Oldenburg hat der 40 Jahre alte Wähler eine Alterszusatzstimme und 28 Abgeordnete werden in zwei-, 14 in einmännigen, 3 in einem dreimännigen Wahlkreise gewählt. 4. Allgemeines und gleiches Wahlrecht. Dem Buchstaben nach gilt es im Reiche, in Frankreich, Spanien, Norwegen, Dänemark, Schweiz, Griechenland. In Frankreich und im Reiche ist es durch die stark verschiedene numerische Entwickelung der Wahlkreise ungleich geworden. Württemberg und Elsass-Lothringen sind die einzigen Länder, wo Gleichheit auch für die Wahlkreise tatsächlich herrscht.


X. Deutsches Reich. Wie bei jedem Wahlrechte, gilt auch beim Reichswahlrechte, dass es ausser von positiven von gewissen negativen Voraussetzungen (Disqualifikationen) abhängt. Wähler zum deutschen Reichstage ist wohl jeder 25 Jahre alte Deutsche, der in einem Bundesstaate wohnt, in diesem Bundesstaate, aber nur, wenn er nicht unter Vormundschaft steht, nicht im Konkurse sich befindet, im letzten der Wahl vorangegangenen Jahre keine öffentliche Armenunterstützung erhielt, und die bürgerlichen Ehrenrechte nicht verlor. (Reichswahlgesetz v. 31. Mai 1869.) Als öffentliche Armenunterstützung gelten seit Reichsgesetz v. 15. März 1909 nicht Krankenunterstützung, Anstaltspflege Angehöriger, Erziehungsbeihilfen, Unterstützung in augenblicklicher Notlage, zurückgezahlte Unterstützungen. Wählbar ist im Reiche 1. jeder Wahlberechtigte, der einem Bundesstaate seit einem Jahre angehört, 2. Ausländer und Eingeborene in den Schutzgebieten, die dort die Reichsangehörigkeit durch Naturalisation erwarben. Der Wahlkreiseinteilung liegt der Rechtssatz zugrunde: „jeder Wahlkreis muss 1864 durchschnittlich 100 000 Seelen gehabt haben.“ Der Satz gilt noch, aber schon seit mehr als zwei Jahrzehnten bilden 100 000 Seelen nicht mehr die Durchschnittsziffer. Augenblicklich ist der Durchschnitt 180 000.


XI. Preussen. Wahlberechtigt zur zweiten Kammer ist bereits nach der Wahlordnung vom 30. Mai 1849 jeder 24 Jahre alte Preusse in der Gemeinde, in der er seit 6 Monaten wohnt oder sich aufhält. Von Anfang an war die Zahlung einer direkten Steuer keine Voraussetzung. Trotzdem sind die Klassen, nach denen sich das Wahlrecht abstuft, nicht Berufs-, Bildungs-, Alters-, Stadt-, Land-, sondern Steuerklassen und zwar reine. Das ist nur dadurch möglich, dass diejenigen, die keine direkten Steuern zahlen, wählen dürfen. Sie wählen in der dritten Klasse. Die Einteilung in drei Steuerklassen bedeutet nicht von selbst: auf jede Klasse entfällt dieselbe Steuersumme. Die Einteilung in Klassen ist Einteilung der Wähler. Die Einteilung besagt daher nicht notwendig: die Klassen haben gleiche Steuer-, bei Bildungsklassen gleiche Bildungskraft; sondern die Einteilung besagt notwendig

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 436. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/456&oldid=- (Version vom 27.8.2021)