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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

30. Abschnitt.


a) Wahlrecht.
Von
Dr. Hermann Rehm,
o. Professor der Rechte an der Universität Strassburg.


Literatur:

Rehm, Deutschlands politische Parteien. Ein Grundriss der Parteienlehre und der Wahlsysteme 1912. –
Curti, Das Wahlrecht, Geschichte und Kritik 1908. –
Gg. Meyer, Das parlamentarische Wahlrecht 1901. –
O. Poensgen, Das Wahlrecht 1909 (mit Literaturangaben.) –
v. Below, Das parlamentarische Wahlrecht in Deutschland 1909. –
Jellinek, Ausgewählte Schriften und Reden Bd. 2 (1911) S. 196 ff.: Das Wahlrecht. –
Tecklenburg, Entwicklung des Wahlrechts in Frankreich seit 1789. 1911. –
Über Wahlreformen berichten jeweils die Zeitschrift für Politik und das Jahrbuch des öffentlichen Rechts. Das geltende Wahlrecht jedes Staates schildert die „Bibliothek des öffentlichen Rechts“.

I. Arten des Wahlrechts. Das staatliche Wahlrecht hat zum Gegensatze das kirchliche und das private Wahlrecht, welch letzteres in den Vereinen, Gesellschaften und Versammlungen des bürgerlichen Lebens betätigt wird. Das staatliche Wahlrecht ist ein administratives oder ein politisches. Das Verwaltungswahlrecht umfasst die Wahlen zu den öffentlichen Verwaltungskörpern, seien diese Staatsorgane oder Organisationen mit selbständigem Wirkungskreise. Seine Hauptgruppen bilden das Gemeindewahlrecht und das sog. soziale Wahlrecht (Kaufmannsgerichte, Organe der Arbeiterversicherung u. s. w.).

Das politische oder parlamentarische Wahlrecht ist das Recht, durch Stimmabgabe bei der Zusammensetzung der gesetzgebenden Volksrepräsentation mitzuwirken.


II. Natur des Wahlrechts. Seiner rechtlichen Natur nach ist das parlamentarische Wahlrecht individuelles Recht, nicht öffentliche Funktion (Wahlamt). Wenn der Wähler wählt, handelt er im eigenen Namen, als Bürger, nicht im Namen des Staates, als Staatsorgan. Als Staatsorgan stimmt der Abgeordnete.

Würde der Wähler juristisch im Namen des Staates tätig sein, so wäre zu erwarten, dass allgemein Wahlpflicht gälte und ein Verzicht auf Teilnahme an der Wahl verboten wäre, denn bei der Wahl handelte es sich dann um eine von vielen zu vollziehende Staatstätigkeit und daher läge nahe, dass ihr Vollzug durch Wahlzwang sichergestellt würde.

Die Staatslehre und die Parteidoktrin der parlamentarisch regierten Staaten vertritt mit grosser Einmütigkeit die Anschauung, das Wahlrecht sei in Wahrheit Wahlamt. Es geschieht dies aus zwei Gründen. Der eine ist juristisch. Nur so lässt sich die Rechtsnotwendigkeit des allgemeinen Wahlrechts, das dem Bestande der demokratischen Regierungsform sehr gefährlich werden kann, mit Erfolg verneinen. Denn ist das Wahlrecht Untertanentätigkeit, dann folgt aus dem Prinzipe der Gleichberechtigung aller Untertanen, in dem die Erklärung der Menschenrechte sogar ein angeborenes Recht erblickt, mit logischem Zwange ein Wahlrecht aller ehrbaren erwachsenen Staatsangehörigen, demgemäss z. B. auch Frauenwahlrecht. Der zweite Grund ist politisch. Volkssouveränität bedeutet politisch: jeder Volksgenosse ist Mitbesitzer, Teilhaber der obersten Staatsgewalt. Diese Bedeutung kann nicht mit Hinweis auf die gesetzliche Unteilbarkeit der Souveränität abgelehnt werden. Denn dieser Satz bedeutet nur: das Volk kann die Souveränität nicht mit jemand teilen, der nicht zu ihm gehört. Es liessen sich also nur Opportunitätsgründe anführen, das praktische Bedürfnis, die mit dem allgemeinen Wahlrechte verbundenen Gefahren verböten, die Konsequenz des allgemeinen Wahlrechts aus dem Volkssouveränitätsbegriffe zu ziehen.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 432. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/452&oldid=- (Version vom 27.8.2021)