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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

d) Entwicklung des Parlamentarismus in Österreich-Ungarn.
Von
Hofrat Dr. Friedrich Tezner,
Professor an der Universität Wien.


Literatur:

Bernatzik, Die österreichischen Verfassungsgesetze mit Erläuterungen, 2. Auflage (1911);
Tezner, Der Kaiser 1909;
Derselbe, Die Volksvertretung (1912), und die daselbst s. IX. f. angeführte Literatur:
Derselbe, Das staatsrechtliche und politische Problem der österreichisch-ungarischen Monarchie im 31. Bd. des Archivs des öffentlichen Rechts.

Die Entwicklung des österreichischen wie des ungarischen Parlamentarismus hat darunter gelitten, dass durch die österreichische Politik nicht rechtzeitig die Unterstellung der historischen zentralen Einrichtungen unter den Einfluss eines zentralen repräsentativen Kollegiums, wenn selbst nur von ständischem Anstrich, angebahnt worden ist. Ein darauf gerichteter, vom Fürsten Metternich dem Kaiser Franz I. im Jahre 1811 vorgelegter Entwurf wurde von dem Kanzler nicht ernstlich betrieben und endete wie manche dem Kaiser unerwünschte Vorlage in der Schublade seines Schreibtisches.

Infolge dieses verhängnisvollen Versäumnisses erhielt die gleichzeitig in Österreich wie in Ungarn im Jahre 1848 ausbrechende revolutionär-konstitutionelle Bewegung einen geradezu chaotischen Charakter. Sie entwickelte sich ohne jegliche oder mindestens ohne deutliche Beziehung zu den historischen zentralen, den elementarsten staatlichen Funktionen, wie der militärischen Verteidigung, der äusseren Verwaltung dienenden Einrichtungen und lieferte dadurch politisch lebensunfähige Torsi. Man denke sich zwei Sonderstaatsverfassungen, die der historischen Monarchie nur für den Zweck gedenken, um ihren Fortbestand auszusprechen, ohne ihr Wesen zu bestimmen und ohne auch nur die Konstitutionalisierung ihrer Einrichtungen in Aussicht zu nehmen. Und doch hatten die beiden grossen nach ungarischem Staatsrecht als die Länder der ungarischen Krone und als die „übrigen Länder Se. Majestät“ zu bezeichnenden Länderkomplexe das Bekenntnis ihres Unvermögens zur Selbstbehauptung in der pragmatischen Sanktion deutlich genug abgelegt und eine Änderung der dieses Unvermögen begründenden Verhältnisse war nicht eingetreten. So sind denn die beiden Verfassungen, die Kaiser Ferdinand I. oder richtiger der für ihn im Stillen fungierenden Regentschaft abgerungen worden sind, nämlich der hier allein in Betracht kommende, in konstitutioneller Form ergangene ungarische Gesetzartikel III: 1848 und die in der Form eines landesfürstlichen Patentes oktroierte Verfassungsurkunde des österreichischen Kaiserstaates vom 25. April 1848 (April- oder Pillersdorfverfassung) mit einem grossen Fragezeichen behaftet, wenn der erstere höchst lakonische Andeutungen über die Aufrechthaltung des Reichsverbandes enthält, während das Patent sich gar nur darauf beschränkt, den konstitutionell organisierten Kaiserstaat als Bestandteil eines nicht näher bestimmten Kaiserreiches zu erklären.

In der Epoche der Kompromissvorhandlungen der Jahre 1861–1867 haben sich die österreichische Regierungspolitik und die ungarisch nationale Politik wiederholt die Schuld an diesem verkehrten und verderblichen Vorgang und an den durch ihn hervorgerufenen unvermeidlichen katastrophalen Verwicklungen wechselseitig zugeschoben. Um ein gewissenhaftes Urteil in diesem Streite abzugeben, wäre eine objektive, auch auf ungarischen Quellen wurzelnde Darstellung der ungarischen Abfallsbewegung der Jahre 1848/49 erforderlich, die bis zum heutigen Tage nicht vorliegt. Sicher ist, dass, wenn der Weg zur Konstitutionalisierung der zentralen Einrichtungen von allen politischen Faktoren gleich von vornherein in’s Auge gefasst und ernstlich gesucht worden wäre, Ströme von Blut erspart worden wären. Man wird sich dabei zu bescheiden

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 409. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/429&oldid=- (Version vom 22.8.2021)