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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1


4. Politik und Moral.

Wäre Politik gleichbedeutend mit Staatsklugheitslehre, dann würde die moralinfreie Doktrin Machiavellis kaum widerlegt werden können. Die praktische Politik hat überdies in alten, wie in neueren Zeiten oft genug zu jedem Gebot der Ethik in Widerspruch gestanden. Gleichwohl bekennt sich die Wissenschaft heute zu der Lehre, dass die Politik den Moralgesetzen unterworfen ist. Man begründet dies entweder damit, dass der Staat als solcher in der sittlichen Ordnung begründet sei;[1] oder mit der Erklärung, für den Staat seien besondere Sittengesetze massgebend; andere, als für den Einzelnen; höchstes Sittengebot für den Staat sei das Gebot der Selbsterhaltung, überhaupt die Machtbehauptung.[2]

Beide Lehren sind irrig. Die erste geht von einem falschen Staatsbegriff aus; der Staat als solcher gehört nicht der Sittlichkeit an, sondern ist autonome Rechtsherrschaft. Die zweite aber konstruiert eine Sittlichkeit, die nicht „echt christlich“ ist, wie v. Treitschke meint,[3] sondern echt antik-heidnisch; man streckt zudem die Moral ins Prokrustesbett, bis sie sich mit der politischen Übung deckt.[4] − −

Da Politik Staatsmachtlehre bedeutet, hat sie an sich mit der Moral (als Wissenschaft, mit der Ethik) ebensowenig zu tun, als an sich die Politik als Praxis mit ethischer Betätigung. Die Betrachtung der Geschichte erweist denn auch, dass nicht nur in niedriger stehenden Zeiten, sondern noch in der Gegenwart bei der politischen Betätigung die brutale Gewalt oft genug nur dürftig verdeckt wird mit einem sittlichen Vorwand. Etwas anderes ist es doch schliesslich nicht, wenn heute die eine oder andere Weltmacht fremde Länder geringerer staatlicher Ordnung und minderer wirtschaftlicher Entfaltung in irgendeiner Form sich unterwirft oder angliedert (pénétration pacifique), um dort „Zivilisation“ oder „Ordnung“ zu schaffen! Falls man daher das Gebot der Ethik für die Politik schlechthin aufstellt, spricht man eine Phrase aus, die in der rauhen Wirklichkeit wie Spreu verfliegt.

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Über das Verhältnis von Politik und Moral bringt die universalgeschichtliche Betrachtung Klarheit. Da die Macht im Staat und das Ringen um staatliche Macht stets sich der Formen des Rechts bedienten, sind die Stufen der Rechtsentwicklung von wesentlichem Einfluss auf die Politik. Alles Recht zeigt aber, von den Urzeiten der Rechtsbildung bis zur Gegenwart, drei grundlegende Gestaltungen: Religiösrechtliche Epoche, Anethische Rechtsgestaltung, Sittlich-rechtliche Synthese.[5]

Im Anfang ist die Gemeinschaft aus Sakralverbänden gebildet; Recht und Kult (der die Ethik in sich schliesst) fallen zusammen. Der Fremde, der jenseits der Gemeinschaft Stehende ist Feind – sowohl des staatlichen Gemeinwesens wie der Kultgenossenschaft; seine Vernichtung ist daher zugleich religiöse Pflicht. Der Untertan steht unter absoluter Herrschaft des Priesterkönigs oder der Hierarchenoligarchie.


  1. So v. Hertling, im Staatslexikon der Görresgesellschaft, 4, S. 556: „Geht man davon aus, dass der Staat als solcher in der sittlichen Ordnung begründet ist, so leuchtet ein, dass ein Widerspruch zwischen den Zwecken und Aufgaben des staatlichen Lebens und dem Sittengesetz in Wahrheit nicht bestehen kann . . .“ Ebenda, S. 561: „. . . .So ist also . . . die volle Herrschaft der Moralgesetze auf dem politischen Gebiet zu proklamieren . . .“
  2. Rümelin, Über das Verhältnis der Politik zur Moral, S. 157, unter Bezugnahme auf den Satz: salus publica suprema lex esto. – v. Treitschke, Politik, I, S. 87–112, S. 100 f. : „. . . . erinnern wir uns, dass das Wesen dieser grossen Gesamtpersönlichkeit (scil. des Staates) Macht ist, so ist also für seine Macht zu sorgen die höchste sittliche Pflicht des Staates. Das Individuum soll sich opfern für eine höhere Gemeinschaft, deren Glied es ist; der Staat aber ist selbst das Höchste in der äusseren Gemeinschaft der Menschen . . . Daraus ergibt sich also, dass man unterscheiden muss zwischen öffentlicher und privater Moral. . . Auch im Innern ist die Macht, das Aufrechterhalten und Durchsetzen des Staatswillens das Wesentliche.“
  3. a. a. O. S. 100.
  4. v. Treitschke, Politik, I, S. 105: „Die Moral muss politischer werden, wenn die Politik moralischer werden soll . . .“
    Ähnlich schon Rümelin, Über das Verhältnis der Politik zur Moral, S. 168.
  5. Des näheren vergl. mein System der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Bd. 2–5 und mein Moral und Gesellschaft des 20. Jahrhunderts, München 1914.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 18. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/38&oldid=- (Version vom 1.8.2018)