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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Somit ergeben sich methodologisch die Leitsätze:

1. Die Politik als Staatsmachtlehre kann nur durch geschichtliche Betrachtung der Machtgruppierungen erfasst werden.

2. Die staatliche Machtentwicklung besteht nicht aus restlosen Umformungen, vielmehr verbleiben aus den früheren Gestaltungen noch jeweils Machtreste fort.

3. Für die Machtgestaltung ist die menschliche Gruppenbildung erheblich.

3. Politik und Allgemeine Staatslehre. Politik und Staatsphilosophie.

Regelmässig setzt die Wissenschaft heute Grenzen zwischen den Disziplinen Politik und Allgemeine Staatslehre.[1] Mit Recht. Die Allgemeine Staatslehre stellt die staatlichen Verhältnisse (ohne Beschränkung auf den einzelnen Staat) wesentlich im Beharrungszustand dar, die Politik dagegen wesentlich nach der Seite des Werdens (Entstehens und Vergehens). Allgemeine Staatslehre ist die Wissenschaft der stabilen Machtverhältnisse des Staats und im Staat, Politik jene der labilen. Allgemeine Staatslehre gibt eine Art Anatomie des Staats, während Politik die Physiologie des staatlichen und innerstaatlichen Machtringens aufzeigt.[2]

Da dieses Machtringen nach Verwirklichung strebt und demnach im günstigen Fall zu Neuem führt, hat man die Politik auch die schöpferische Seite der Staatstätigkeit genannt.[3] Aber das trifft nicht den Kern der Sache. Denn auch die Rechtsprechung kann schöpferisch sein (das Prätorische Edikt der Römer, die equity der Engländer, die Ausgestaltung gemäss der Freirechtsschule der Gegenwart); andrerseits bleibt die Politik auch dann noch Politik, wenn sie, in Marasmus verfallen, jeder schöpferischen Kraft entbehrt (Niedergangszeiten; Herrschaft der Reaktion).

Auch der Gegensatz: die Staatslehre enthält wesentlich Erkenntnisurteile, die Politik Werturteile,[4] ist unzutreffend. Denn die Staatslehre kann sich der Kritik nicht begeben, während die Werturteile für die Politik nur das Mittel bilden zu Erkenntniszielen. – Wie Anatomie und Physiologie das Objekt, den menschlichen Körper, gemeinsam haben, so auch Allgemeine Staatslehre und Politik, nämlich den Staatskörper. Der Unterschied hegt hier wie dort in dem Gegensatz: Ruhe – Bewegung. Die Politik spiegelt das Machtringen in seinen zahllosen Gliederungen, die Staatslehre zeigt die gefestigte Macht. Der bleibende Niederschlag der Politik der Gegenwart ergibt die Staatslehre der nächsten Zukunft.

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Politik und Staatsphilosophie sind so eng verwandt, dass ihre Grenzen in einander überfliessen. Denn Politik und Staatsphilosophie haben das Objekt gemeinsam. Der Unterschied liegt nur in der Grösse und Bedeutsamkeit des Standpunkts der Forschung; der quantitative Unterschied begründet den qualitativen.[5]

Man kann somit das Verhältnis von Allgemeiner Staatslehre zur Staatsphilosophie und zur Politik in die Gleichung bringen:

Allgemeine Staatslehre: Staatsphilosophie: Politik = Zustand: Richtlinien: Erfolgsstrebungen.


  1. Anders Rich. Schmidt, Allgemeine Staatslehre, I, S. 25–30: Da die Allgemeine Staatslehre nicht nur deskriptiv, sondern auch kritisch verfährt und verfahren muss, fällt sie nach Schmidt in ihrem kritischen Teil zusammen mit der Politik. Zugleich scheidet Schmidt die Lehre von den Akten der blossen Staatskunst aus der Allgemeinen Staatslehre aus (a. a O. S 29).
  2. Bluntschli, Lehre vom modernen Staat, I, S. 2f: „Die Wissenschaft der Politik betrachtet den Staat in seinem Leben, in seiner Entwicklung, sie weist nach den Zielen hin, nach denen das öffentliche Leben sich bewegt und lehrt die Wege kennen, welche zu diesen Zielen führen . . .“ Vergl. auch Schäffle, Über den wissenschaftlichen Begriff der Politik, Ztschr. f. d. ges. Staatswissenschaft, LIII, S. 582 ff. Gegen Bluntschli: Rich. Schmidt, Allgemeine Staatslehre, I, S 29.
  3. So Schäffle, a. a. O. S. 593.
  4. So Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 13.
  5. Vergl. mein System, Bd. II, S. 23 und sonst.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 17. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/37&oldid=- (Version vom 1.8.2018)