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der Politik festzustellen. Allein der Apriorismus ist in der gesamten Staatslehre abzulehnen, weil er die geschichtliche Entwicklung ausser Betracht lässt. Daher gelangt denn auch van Calker zu einem grundlegenden politischen Gesetz „grösstmöglicher Förderung der Vervollkommnung aller“[1]), dessen angebliche Geltung mit den geschichtlichen Tatsachen nicht im Einklang steht.

Die Soziologen[2] erstreben gleichfalls absolute Voraussetzungslosigkeit und Ausschaltung der Werturteile. Die Soziologen wollen durch Übertragung der naturwissenschaftlichen Forschungsart[3] „den naturgesetzlichen und daher notwendigen und unvermeidlichen Gang der sozialen Entwicklung kennen lehren.“[4]

Dass jedoch die Politik sich der historischen Methode bedienen muss, ergibt sich aus dem Wesen der Politik. Das politische Handeln, oder der Kampf um die Macht des Staates und im Staate bezielt und erzielt fortgesetzt grössere und kleinere Änderungen im staatlichen Leben. Die Lehre dieses Machtringens muss daher das staatliche Leben in seiner Entwicklung ergreifen, um es begreifen zu können. Diese Lehre der historischen Methode führt auf Herder[5] und die historische Schule der Jurisprudenz[6] zurück.[7] Schon in der Zeit der Romantik wurde (für die Begreifung des Rechts) die Forderung der historischen Methode aufgestellt, die freilich bis heute erst zum geringsten Teil erfüllt ist.[8]

Die geschichtliche Betrachtung erweist aber das geschichtliche Werden oder die Entwicklung nicht etwa dergestalt, dass ein früherer Zustand restlos in einen späteren umgewandelt würde. Vielmehr bleiben kraft Beharrungsvermögens Reste der früheren Zeit immer noch fortbestehen – zwecklos oder selbst zweckwidrig (wenn man sich utilitarisch ausdrücken will), rudimentär (um eine naturwissenschaftliche Bezeichnung zu verwenden). Aus allen früheren Epochen ragen Reste grösseren oder kleineren Umfangs in die spätere Zeit, bis zur Gegenwart. Diese Beharrungsreste finden sich im Recht, wie im gesellschaftlichen Leben; ebenso auch bei den Machtfaktoren (Päpstliche Universalmonarchie, Absolutismus, Feudalismus, Polizeistaat, kapitalistische Ausbeutung bestehen noch heute in rudimentären Machterscheinungen fort). – Aus dieser Erkenntnis der geschichtlichen Entwicklung als einer unvollkommenen, restebehafteten Umgestaltung erwächst die Notwendigkeit, die geschichtliche Betrachtung zur universalgeschichtlichen zu erweitern.

Ist daher die Soziologie auf dem Irrweg mit ihren naturwissenschaftlichen Verpflanzungsversuchen, so verdanken wir doch der Soziologie eine bedeutsame Erkenntnis: sie hat der Neuzeit die Augen geöffnet für die Wichtigkeit der Gruppen zur Begründung und Fortführung des staatlichen Lebens. Die atomistische Betrachtungsart des Naturrechts wurde zerstört (so gründlich, dass man heute zu übersehen geneigt ist, dass die Gruppe zwar nach aussen hin geschlossen auftritt, nach innen aber differenziert bleibt durch die Einzelnen mit ihrem Eigenleben und ihren Sonderansprüchen).


  1. Politik als Wissenschaft, S. 27.
  2. Gumplowicz, Soziologie und Politik, S. 103–134, 137 ff. (Literaturangaben). Hierher gehört auch Schäffle. Zu vergleichen ferner Spencer, Die Prinzipien der Soziologie. Deutsch von Vetter. II. Bd., Stuttgart 1887, S. 5–21 (Darstellung der Gesellschaft als eines Organismus). Ratzenhofer, Wesen und Zweck der Politik, I, S. 1–25, gründet die Politik auf die Soziologie.
  3. Mit Recht gegen die soziologische Methode Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S.67; Rich. Schmidt, Wege und Ziele der Politik, Ztschr. f. Politik, I, S. 9 ff.; F. van Calker, Politik als Wissenschaft, S. 11–15, S. 11 f.: „. . . Gegenstand der naturwissenschaftlichen Erkenntnis ist . . . das einzelne Lebewesen und seine Entwicklung . . . Gegenstand jeder Untersuchung des staatlichen Lebens . . . die Gestaltung des Zusammenlebens und Zusammenwirkens . . .“
  4. Gumplowicz, Soziologie und Politik, S. 103 (Vergl. dazu a. a. O. S. 107 f.) Ratzenhofer, Wesen und Zweck der Politik, I, S. 1–26, 155–159.
  5. Ideen zur Geschichte der Menschheit. Riga und Leipzig 1785–92.
  6. v. Savigny, Puchta, Niebuhr, Eichhorn Dazu kommt der Einfluss des Philosophen Schelling.
  7. Mit Recht – unter Bezugnahme auf Herder – v. Treitschke für die geschichtliche Methode. Politik, I, 6: „Demnach soll also die Politik nach der Methode des historischen Denkens aus empirischen Betrachtungen deduzieren.“
  8. Richtig: Bergbohm, Jurisprudenz, und Rechtsphilosophie, I, Leipzig 1892.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 16. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/36&oldid=- (Version vom 19.12.2021)