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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Während im Altertum Politik gleichbedeutend war mit Wissenschaft vom Staat,[1] steht heute nur so viel fest, dass Politik lediglich eine der Wissenschaften vom Staat bedeutet. Das Wesen der politischen Wissenschaft findet man durch Betrachtung der Betätigungskreise, deren Regeln die politische Wissenschaft zu bestimmen hat. Die für die politische Praxis geltenden oder zu bestimmenden allgemeinen Gesichtspunkte oder Normen ergeben die politische Wissenschaft.[2]

Die politische Praxis umfasst die Regierung der Machthaber im Staat, unter Ausschluss der Rechtsprechung; ferner die Wahrung der Gemeinschaftsinteressen gegenüber dem Ausland, mit Ausschluss der internationalen und der Schiedsgerichts-Rechtsprechung; zum dritten die Geltendmachung von Rechten und Ansprüchen der Regierten mit Bezug auf die Gemeinschaft oder Gemeinschaftsteile, unter Ausschluss der im Prozessweg verfolgten.[3] Das gemeinsame Kennzeichen all dieser Akte, Regungen und Strebungen ist die Erstrebung, Entfaltung, Behauptung, Verteilung oder Erweiterung von Macht mit Bezug auf die eigene oder fremde Gemeinschaft. Politik als Wissenschaft ist daher Staats-Machtlehre.

Die Probe ergibt ein Blick auf den Inhalt der wissenschaftlichen Werke über Politik. Als der Kampf zwischen Staat und Kirche um die Macht im Staat mit der Befreiung des Staats aus kirchlicher Umklammerung endigte, galt es das Wesen der Souveränität festzulegen.[4] Der Despotismus findet seine wissenschaftliche Spiegelung bei Machiavelli.[5] Der aufgeklärte Absolutismus im Antimachiavel.[6] Mit der politischen Befreiung der Bürgerschaft bildet der Parlamentarismus[7] den Kernpunkt der wissenschaftlichen Politik. Und seit der wirtschaftlichen Befreiung des Proletariats stehen die Machtfragen der Arbeitgeber- und -nehmerverbände im Vordergrund.

Machtbehauptung, -verteilung und -erweiterung bilden das Wesentliche.[8]

2. Geschichtliche Methode mit soziologischem Ausbau.

Das Untersuchungsobjekt bestimmt die Untersuchungsmethode. Jedermann sieht ein, dass die Untersuchungsmethode des Strafrichters eine andere sein muss, als jene des Ingenieurs oder Arztes. Wenn gleichwohl in der Politik, wie in anderen Geisteswissenschaften der Versuch auftauchte, eine fremde, für andersgeartete Wissenschaftszweige geeignete Methode herüberzuverpflanzen, findet dieses fehlerhafte Bemühen regelmässig seinen Grund in dem (begrüssenswerten) Streben nach Voraussetzungslosigkeit. So sucht Fritz van Calker[9] auf neukantschem Boden a priori eine Idee der Vervollkommnung (= „Erhöhung der Leistungsfähigkeit“) als Prinzip


  1. πολιτική τέχνη = Staatenkunde und Sittenlehre im weitesten Sinn. – Noch Waitz, Grundzüge der Politik (Vorbemerkung) setzt Politik gleich mit „wissenschaftlicher Erörterung der Verhältnisse des Staats.“ – Auch die romanischen Völker und England treffen keine scharfe Scheidung. Vergl. Jellinek, Allgemeine Staatslehre. S. 5.
  2. Rehm, Allgemeine Staatslehre, S. 9: „Die Politik als Lehre ist die Lehre von der Politik als Tätigkeit.“
  3. Daher zu eng van Calker, Politik als Wissenschaft, S. 7: „Politik als Praxis . . : die Leitung der Staatsangelegenheiten.“
  4. Dante bis Nicolaus Cusanus und die Tyrannomachen. Vergl. dazu mein System der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Bd. II, S. 129–132, 141–145; Bd. III, S. 191 ff.
  5. Discorsi und II principe. (Vergl. dazu mein System, Bd. II, S. 133 f.)
    Aus der Zeit des Absolutismus rührt die Auffassung der Politik als der Staatskunst (v. Treitschke, Politik, I, 1: „Alle Politik ist Kunst“).
  6. L’Antimachiavel ou examen du prince de Maciavel (1739). Vergl. dazu mein System, Bd. II, S. 183 bis 186.
  7. Vergl. mein System, Bd. III, S. 215–232.
  8. Im wesentlichen treffend: Schäffle, Bau und Leben des sozialen Körpers (in der 1. Aufl.) Bd. 4, S. 327 bis 347 (dagegen irrig ebenda Bd. 1, S. 559); Über den wissenschaftlichen Begriff der Politik, Ztschr. f. d. ges. Staatswissenschaft, LIII, S. 579–600.
    Rehm, Allgemeine Staatslehre, S. 10, ersieht in der Politik: Staatskunstlehre, Staatsmacht- und Staatsklugheitlehre. Aber die Gleichsetzung in dieser Trias ist unzutreffend. Staatskunst und -klugheit sind nur Mittel zur Behauptung oder Erweiterung der Staatsmacht; auf diese letzte allein kommt es an.
  9. Politik als Wissenschaft, S. 15 ff., 19, 27.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/35&oldid=- (Version vom 25.11.2022)