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Gruppen hält. Nach den Verfassungen der zuerst genannten Staaten dürfen Notverordnungen nur erlassen werden, wenn die Volksvertretung nicht versammelt ist, indem diese Gesetzgebungen davon ausgehen, dass anderenfalls sich ja der Weg der Gesetzgebung ohne weiteres beschreiten lässt. Weiter bedürfen die Notverordnungen nach den meisten dieser Verfassungen der Gegenzeichnung des gesamten Staatsministeriums, das damit die Verantwortung für sie dem Landtage gegenüber übernimmt. Sie sind sodann inhaltlich dahin beschränkt, dass sie keine Bestimmungen enthalten dürfen, die der Verfassung, bisweilen (z. B. im Kgr. Sachsen, Grossh. Sachsen, Reuss j. L.) auch keine, die dem Wahlgesetze zuwiderlaufen. Sie sind stets – auch wenn sie, was möglich ist, keine Rechtssätze enthalten, also materiell Verwaltungsverordnungen sind – wie die formellen Gesetze zu publizieren. Und sie sind endlich dem Landtage bei seinem nächsten Zusammentritte zur Genehmigung vorzulegen. Erteilt dieser die Genehmigung, so bleibt die Verordnung als vollwertiges Gesetz, zu dem beide gesetzgebende Faktoren zugestimmt haben, in Kraft. Verweigert er sie, so tritt nach einigen Verfassungen (z. B. Grossh. Sachsen, Sachsen-Koburg-Gotha, Braunschweig) die Verordnung ohne weiteres ausser Kraft, während andere (z. B. Oldenburg, Schwarzburg-Sond.) bestimmen, dass die Regierung sie sofort wieder aufzuheben hat. Sagt die Verfassung überhaupt nichts über die Wirkung der Verweigerung der Zustimmung (z. B. Preussen, Kgr. Sachsen, Reuss ä. u. j. L.), so ist anzunehmen, dass mit ihr die Verordnung ohne weiteres ausser Kraft tritt, da sie unter der Voraussetzung der Zustimmung des Landtages erlassen ist;[1] nur für Preussen ist diese Deduktion unzutreffend, indem ihr hier die positive Bestimmung des Art. 106 Verf.-Urk. entgegentritt, nach dem alle gehörig publizierten königlichen Verordnungen, also auch die Notverordnungen, so lange verbindlich sind, bis ihre Aufhebung durch die Staatsregierung gehörig bekannt gemacht ist. Der Wegfall der Notverordnung wirkt nur für die Zukunft, nicht für die Vergangenheit; deshalb bestehen die unter ihrer Herrschaft entstandenen Rechtsverhältnisse fort und sind nach ihr zu beurteilen. Durch die Notverordnung aufgehobene Gesetze treten mit ihrem Wegfalle von selbst wieder in Kraft. In Hessen ist das Notverordnungsrecht insofern ein etwas freieres, als es auch bei versammelten Landständen ausgeübt werden darf, als weiter die Notverordnung diesen zur Genehmigung nur vorgelegt werden muss, wenn sie nach Ablauf eines Jahres noch für längere Zeit oder bleibend fortbestehen soll (Ges. 15. Juli 1862), und auch eine Gegenzeichnung derselben durch alle Minister nicht vorgeschrieben ist; die Notverordnungen finden aber auch hier ihre Schranke an den Bestimmungen der Verfassungsurkunde und müssen von der Regierung aufgehoben werden, wenn sie dem Landtage vorgelegt und von diesem nicht genehmigt sind. In Baden und Württemberg dagegen ist dem Notverordnungsrechte überhaupt keine der vorbezeichneten Schranken gezogen: Notverordnungen dürfen hier nicht nur, ebenso wie in Hessen, auch bei versammeltem Landtage und unter Kontrasignatur eines Ministers erlassen werden, sie können hier auch Verfassungsvorschriften ändern und aufheben, und bedürfen keiner nachträglichen ständischen Genehmigung; die einmal erlassene Notverordnung gilt hier, bis der Landesherr in ihre Aufhebung willigt, selbst wenn die Stände die Voraussetzungen für ihren Erlass oder ihre Fortexistenz nicht für gegeben halten. Dem Reichsstaatsrechte ist das Institut der Notverordnung im allgemeinen unbekannt; es besteht jedoch für Elsass-Lothringen (Verf.Ges. 31. Mai 1911 Art. II § 23). Hier kann der Kaiser, während der Landtag nicht versammelt ist, Verordnungen mit Gesetzeskraft erlassen. Diese sind wie alle Anordnungen, die der Kaiser als Träger der Staatsgewalt in Elsass-Lothringen erlässt, vom Statthalter zu kontrasignieren. Sie finden inhaltlich ihre Schranke an den Bestimmungen des Verfassungsgesetzes, da dieses (Verf.-Ges. Art. III) nur im Wege der Reichsgesetzgebung, also nicht durch eine Notverordnung, geändert werden darf. Sie sind dem Landtage bei seinem nächsten Zusammentreten zur Genehmigung vorzulegen und treten bei Versagung dieser ausser Kraft.




  1. Die Frage ist jedoch bestritten, vgl. G. Meyer, St. R. S. 57910 u. betr. Sachsens bes. O. Mayer, St. R. des Kgr. Sachsen S. 183. Allerdings muss auch nach der oben vertretenen Ansicht die Regierung die Ablehnung der Zustimmung alsbald bekanntmachen, damit die Unwirksamkeit der Vdg. allgemein bekannt werde.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 312. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/332&oldid=- (Version vom 1.8.2018)