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Staates ausgeht.[1] Als Verordnung im materiellen Sinne bezeichnet man im Gegensatze zum Gesetze im materiellen Sinne jede bestimmte Tatbestände allgemein (vgl. unten unter Ziff. 2) ordnende Norm, die keine Rechtsvorschrift (s. oben S. 285) enthält, sondern sich im Rahmen der geltenden Rechtsordnung bewegt. Besondere Pflichten innerhalb der allgemeinen Rechtsordnung kann der Staat aber nur Personen auferlegen, die in einem besonderen Unterordnungsverhältnisse zu ihm stehen, und das sind in erster Linie die Beamten, sodann aber auch gewisse nicht beamtete Personenkategorien, wie besonders die in militärischen Dienstverhältnissen stehenden Untertanen und Personen, die öffentliche Anstalten benutzen und damit in einen besonderen Machtkreis der öffentlichen Verwaltung treten. – Der Ausdruck formelle Verordnung zielt also lediglich auf eine bestimmte Form, ein bestimmtes Zustandekommen einer staatlichen Willenserklärung ab, während der Ausdruck materielle Verordnung allein den Inhalt einer staatlichen Willenserklärung charakterisiert. Eine notwendige Wechselbeziehung zwischen beiden Bezeichnungen besteht nicht. Eine staatliche Willenserklärung, die in formeller Hinsicht als Verordnung erscheint, braucht inhaltlich eine solche nicht zu sein; sie kann eine Rechtsnorm enthalten und ist dann materiell ein Gesetz, wie dieses z. B. bei allen Polizeiverordnungen der Fall ist. Auf dieser möglichen Inkongruenz zwischen Inhalt und Form beruht die Einteilung der formellen Verordnungen in Verwaltungsverordnungen und Rechtsverordnungen, die von praktischem Werte besonders für die Frage nach der Zuständigkeit der Staatsorgane zum Erlasse von Verordnungen ist. In der amtlichen, namentlich in der modernen Gesetzes-Sprache wird das Wort Verordnung gewöhnlich im formellen Sinne gebraucht, handelt es sich hier doch regelmässig entweder darum, dass die Regelung einer Angelegenheit auf den Verordnungsweg verwiesen wird, oder dass das formelle Zustandekommen einer Verordnung normiert oder nachgeprüft wird. Der materielle Verordnungsbegriff entbehrt darum aber nicht der praktischen Bedeutung: er grenzt das selbständige Verordnungsrecht der Regierung ab gegen die Sphäre der konstitutionellen Gesetzgebung. Im folgenden ist das Wort Verordnung nur im formellen Sinne gebraucht.

2. Von der Verfügung, die gleich der Verordnung eine obrigkeitliche staatliche Willenserklärung ist, unterscheidet sich die Verordnung durch die Allgemeinheit ihres Inhaltes. Die Verordnung gibt eine allgemeine Regel für die Ordnung der in ihr angegebenen Tatbestände, sie enthält eine abstrakte Norm und schafft, wenn diese Norm in den Rechtsstand der Regierten eingreift (Rechtsverordnung), objektives Recht. Die Verfügung dagegen ordnet einen konkreten Einzelfall oder eine Summe einzelner Fälle nach Massgabe des bestehenden Rechtes. Sie ist ein Gebot, das sich an dem einzelnen Falle erschöpft, das der Realisierung einer objektiven Norm dient, aber nie eine neue objektive Norm schafft. In dieser Weise werden heute in der Literatur die Begriffe Verordnung und Verfügung fast allgemein bestimmt und gegen einander abgegrenzt, dem amtlichen und besonders auch dem gesetzlichen Sprachgebrauche wird diese Begriffsbestimmung allerdings nicht immer gerecht. Er geht vielfach dahin, alle von der obersten Stelle im Staate ausgehenden Anordnungen als Verordnungen zu bezeichnen, auch solche, die einen Einzelfall regeln,[2] während Anordnungen der Zentral- und anderer höheren Behörden, die den Dienstbetrieb der ihnen unterstellten Organe regeln, trotz ihrer über den Einzelfall hinausgehenden Bedeutung gewöhnlich als Verfügungen oder als Generalverfügungen oder Zirkularverfügungen bezeichnet werden.


  1. Diese Begriffsbestimmung sieht naturgemäss hinweg über einen vereinzelt dastehenden partikulären Sprachgebrauch, wie den der bayerischen Landesgesetzgebung, nach dem nur landesherrliche Anordnungen der bezeichneten Art „Verordnungen“ genannt, solche der dem Landesherrn untergeordneten Stellen dagegen stets mit anderen Namen (Erlasse, Vorschriften u. s. w.) belegt werden; bayer. Pol.Str.Ges.B. 1871 Art. 1,8, 10, v. Seydel, St. R. II. S. 328. Für die allgemeine wissenschaftliche Betrachtung fallen auch die von den verschiedenen bayerischen Behörden erlassenen Anordnungen oben angegebener Art unter den Gattungsbegriff der Verordnung.
  2. So werden z. B. im Reiche wie in Preussen zahlreiche Anordnungen des Kaisers bezw. Königs, die der obigen Begriffsbestimmung nach zweifellos Verfügungen sind, als Verordnungen bezeichnet, so die Anordnungen, durch welche der Reichs- oder Landtag einberufen wird, durch welche der König Personen mit erblicher Berechtigung in das Herrenhaus beruft (Vdg. 12. Okt. 1854 § 2 Abs. 2), durch die er die Enteignungsbefugnis verleiht (Ges. 11. Juni 1874 § 2) u. a. Ganz ähnlich in Sachsen (Nachweisungen bei O. Mayer, Sächs. St. R. i. öffentl. R. d. Gegenwart IX S. 185) und anderen Staaten.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 302. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/322&oldid=- (Version vom 28.9.2019)