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dem Begriffe der Rechtsnorm, also, ohne Rücksicht auf ihr formelles Zustandekommen, jede Norm umfasst, die gebietend oder verbietend eingreift in den Rechtsstand der Regierten. Ein formelles Gesetz ist überall da gegeben, wo eine staatliche Willenserklärung in der bezeichneten Weise (näheres unten zu IV) zustande gekommen ist. Auf den Inhalt der Norm, auf den allein der materielle Gesetzesbegriff abgestellt ist, kommt es für den formellen garnicht an. Ein formelles Gesetz kann eine Rechtsnorm enthalten und ist dann auch im materiellen Sinne Gesetz, es kann aber auch eine nicht als Rechtsnorm anzusprechende Norm enthalten, wie wenn es eine Veräusserung von Staatsgütern oder eine Aufnahme einer Anleihe anordnet, und ist dann im materiellen Sinne nicht Gesetz, sondern Verordnung oder Verfügung (s. unten S. 292 f). Die Wirkung des formellen Gesetzes ist zunächst dieselbe wie die des materiellen: es bindet jeden, den es nach Massgabe seines Inhaltes angeht. Sodann aber noch eine weitere, dem formellen Gesetze spezifisch eigentümliche, die zusammenhängt mit seiner besonderen Entstehungsart: es wirkt vermöge der ihm innewohnenden sog. formellen Gesetzeskraft, dass die Bestimmungen, die es trifft, nur auf dem Wege, auf dem sie entstanden sind, also nur durch ein neues formelles Gesetz abgeändert oder aufgehoben werden können. Die Erklärung des Staatswillens in Form des Gesetzes ist die wirksamste und autoritativste. Daher kann, was in dieser Form angeordnet ist, nicht durch eine in einfacherer Form (im Wege der Verordnung s. unten 293) abgegebene staatliche Willenserklärung geändert werden. Wohl aber können alle Normen, die nicht im Wege der Gesetzgebung emaniert sind, durch das formelle Gesetz geändert und aufgehoben werden.

In welchem Sinne der Ausdruck Gesetz im einzelnen Falle in einer im konstitutionellen Staate ergangenen Vorschrift gebraucht ist, kann, sofern sich nicht, um Zweifel auszuschliessen, der Gesetzgeber hierüber ausdrücklich erklärt hat[1] nur aus dem Zusammenhange entnommen werden.[2] In der modernen Literatur wird das Wort Gesetz meistens im formellen Sinne gebraucht.

II. Ist nach dem Vorangehenden jedes formelle Gesetz eine Schranke der Bewegungsfreiheit der Regierung, die sie allein (d. h. ohne Mitwirkung der Volksvertretung) nicht mehr beseitigen kann, so ist es eine der wichtigsten Fragen des praktischen Staatslebens, wann eine staatliche Willenserklärung in Form des Gesetzes abgegeben werden muss und wann die zur Disposition der Regierung stehende Verordnung genügt. Aus dem Wesen des formellen Gesetzes lässt diese Frage sich nicht beantworten. Die in Betracht kommenden Verfassungsvorschriften aber sind nicht überall auf den ersten Blick klar und eindeutig, und so ist die Frage nach dem Vorbehaltsgebiete des formellen Gesetzes eine sehr umstrittene. Die heute zweifellos herrschende Meinung, die schon um deswillen die annehmbarste ist, weil sie die Entstehungsgeschichte der umstrittenen Verfassungsvorschriften für sich hat,[3] geht dahin, dass Rechtsvorschriften stets im Wege der Gesetzgebung erlassen werden müssen; wobei dann unter Rechtsvorschriften solche Vorschriften verstanden werden, die in den Rechtsstand der Regierten eingreifen oder, wie dieses eine in mehreren Verfassungsurkunden sich findende Formel ausdrückt, „die Freiheit der Personen und das Eigentum der Staatsangehörigen betreffen“. Staatliche Willenserklärungen, die nicht neue Rechtsvorschriften enthalten, müssen nur dann in die Form des Gesetzes gekleidet werden, wenn diese gesetzlich ausdrücklich vorgeschrieben ist – wie z. B. für den Etat, für die Aufnahme von Anleihen, Übernahme von Garantien (R. Verf. Art. 69, 73; preuss. Verf. Art. 99, 103) und andere Verwaltungshandlungen, oder für die Urteilssprüche, welche der Bundesrat auf Grund des Art. 76 Abs. 2 der R. Verf. zu fällen hat – , oder wenn sie


  1. wie z. B. in Art. 2 des Einf. Ges. z. B. G. B. „Gesetz im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches und dieses Gesetzes ist jede Rechtsnorm“, d. h. das Wort Gesetz ist hier stets gebraucht im materiellen Sinne. Ebenso Einf. Ges. z. Zivilprozessordnung Art. 12, z. Strafprozessordnung Art. 7, z. Konkursordnung Art. 2.
  2. Aus ihm ergibt sich z. B., dass in den Verf.-Urkunden das Wort Gesetz stets da im formellen Sinne gebraucht ist, wo die Regelung einer Angelegenheit durch Gesetz vorgeschrieben ist, indem es sich hier darum handelt, der Volksvertretung eine Beteiligung an dieser Regelung zu sichern. Vergl. z. B. preus. Verf. Urk. Art. 2, 5, 8, 9, 13 usw. (anders dagegen Art. 4: „Alle Preussen sind vor dem Gesetze gleich“, wo Gesetz zweifellos im materiellen Sinne gebraucht ist) oder Reichsverf. Art. 41, 69.
  3. Vgl. die bei G. Meyer St. R. S. 562 f., Anm. 6 u. 7 gegebenen, durch Anschütz ergänzten Nachweisungen.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 294. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/314&oldid=- (Version vom 1.8.2018)