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allein braucht man hier nicht zu denken; es gibt andere, schwerere Fälle. So wird in Kriegszeiten durch die feindliche Okkupation für das okkupierte Gebiet die schwierige Situation der formalen Fortgeltung der alten und des tatsächlichen Eingreifens einer neuen Staatsgewalt geschaffen. Aus völkerrechtlichen Gründen können Vergeltungsmassnahmen (Retorsion, Repressalien) im Inlande eine anormale Rechtslage bedingen, die nicht erquicklicher dadurch wird, dass die Wissenschaft hierfür die Vorarbeit vermissen lässt. Oder die Verwaltung geht über das Gesetz hinweg, wie es in Frankreich selbst ein demokratischer Parteiführer (Briand als Ministerpräsident gegenüber den Gewalttaten der ausständischen Eisenbahner) als oberstes Recht der Staatsgewalt in Anspruch nahm. Und schliesslich sind in dem Streite der politischen Parteien gerade die Fundamentalgesetze des Staates von gewaltsamer Umwälzung bedroht. Das Recht schweigt, das sich nicht bewähren kann. Aussergesetzliche Macht geht vor Recht, um selbst Recht zu werden.

Gewiss: „les lois sont la permanence des choses“ – aber „das Gesetz ist ein Stück irdischer Vorsehung, und es hat reichlich an sich zu erfahren, wie beschränkt, wie schwach, wie trügerisch dieselbe ist.“ Beide haben sie recht: Thiers, hier der Jurist, nicht der Politiker sagt es (de la propriété, 1848!), und Bülow, der Prozessualist. Die Zusammenfassung, den Ausklang mag uns, wie wir es verstehen, ein bekanntes Wort von Stammler geben: „Alles gesetzte Recht ist nur ein Versuch, richtiges Recht zu sein.“






21. Abschnitt.


Die formellen Gesetze.
Von
Dr. Paul Schoen,
o. Professor der Rechte an der Universität Göttingen.


Literatur:

Jellinek, Gesetz und Verordnung (1887);
G. Meyer, Anteil der Reichsorgane an der Reichsgesetzgebung (1889);
v. Martitz, Über den konstitut. Begriff d. Gesetzes (Ztschr. f. d. ges. Staatswiss. XXXVI., 1880, S. 241 ff);
Haenel, Studien II (1880);
Anschütz, Begriff der gesetzgebenden Gewalt (2. Auflg. 1901);
Derselbe, Grundzüge des deutschen Staatsrechtes, i. Köhlers Enzyklop. d. Rechtswissenschaften (7. Auflg. 1913) IV;
v. Seydel, Komm. z. R.-Verf. (2. Auflg. 1897) S. 41 ff. 171 ff;

die Lehrbücher des Staats- und Verwaltungsrechtes bes.

Laband St. R. (4. Auflg. 1901) II S. 1 ff;
G. Meyer St. R. (6. Auflg., bearb. von Anschütz 1905), S. 549 ff;
Haenel St. R. I (1892) S. 238 ff,
Zorn St. R. I (2. Aufig. 1893) S. 392 ff, 407 ff;
Arndt St. R. (1901) S. 156 ff;
Schulze, Preuss. St. R. (2. Aufl. 1890) II S. 1 ff;
v. Seydel, Bayer. St. R. (2. Auflg. 1896) II S. 306 ff;
Loening, Verw. R. (1884) S. 225 ff;
O. Mayer, Verw. R. I (1895) S. 67 ff.

I. Unter einem formellen Gesetze versteht die herrschende Theorie[1] des konstitutionellen Staatsrechtes, der auch die Praxis der höchsten Gerichtshöfe sich angeschlossen hat, jede durch ein verfassungsmässig geordnetes Zusammenwirken des Trägers der Staatsgewalt und der Volksvertretung zustande gekommene staatliche Willenserklärung. Dieser formelle Gesetzesbegriff ist im konstitutionellen Staate neben den alten materiellen Gesetzesbegriff getreten, der identisch ist mit


  1. In den Hauptpunkten im wesentlichen übereinstimmend, vertreten besonders von Laband, G. Meyer, Jellinek, v. Seydel, Schulze, Anschütz, O. Mayer. Gegner dieser Theorie und der ganzen Unterscheidung von formellem und materiellem Gesetz besonders v. Martitz, Zorn, Haenel. Über den gegenwärtigen Stand der Lehre wie auch der Praxis eingehende Nachweisungen bei G. Meyer St. R bes. S. 549 f., Anm. 1 u. S. 560 f.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 293. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/313&oldid=- (Version vom 1.8.2018)