Seite:Handbuch der Politik Band 1.pdf/307

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Reichsverfassung).[1] Eine andere Notwendigkeit besteht, wo sich der Gesetzgeber schon einmal zu einem Gesetze bestimmten Inhalts verpflichtet hat. Eine derartige Bindung, zuweilen um Augenblickserfolges willen, steht freilich nicht im Einklänge mit der Vormachtstellung des Gesetzgebers und ist geeignet, sie zu diskreditieren, wenn veränderte Umstände, z. B in der Zusammensetzung der Volksvertretung, die Erfüllung des Versprechens hindern oder hinausschieben (die Verheissungen in der deutschen Bundesakte, in der preussischen Verfassungsurkunde, die sog. lex Trimborn im Zolltarifgesetze, das Wahlkreisgesetz im Reiche) – sie ist deshalb grundsätzlich zu vermeiden. Freilich kann eine gewisse Regelmässigkeit schon in dem Inhalte der Gesetzesaufgabe liegen, wie beim Staatshaushalte. Dann ist die Bindung selbstverständlich. Und sie kann einen gewiss zu billigenden moralisch-politischen Zweck verfolgen, um bei dem Wechsel der Volksvertretung bestimmte Richtlinien für Massnahmen festzuhalten, die vor Schwankungen behütet werden müssen (vgl. Militärgesetz, Flottengesetz). Hierzu tritt m neuerer Zeit nicht selten eine durch internationalen Vertrag, in besonderem Masse bei Gründung eines Bundesverhältnisses, geschaffene Pflicht oder sich ergebende Notwendigkeit zum Erlass innerstaatlicher Gesetze, z. B. durch die Brüsseler Antisklavereiakte oder für die Anpassung der Zuckersteuer an die internationale Zuckerkonvention, der Telegraphengesetzgebung, des Eisenbahnfrachtrechts, des Arbeiterschutzes usw. an das internationale Recht: das geht letztens – bei der Wechselordnung – gar so weit, den Wortlaut des nationalen Gesetzes vorzuschreiben.[2]

Auf der andern Seite birgt die Neigung zur Spezialgesetzgebung, um Bedürfnissen, sobald sie auftauchen, zu genügen, eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die in der Geschlossenheit des gesetzlichen Aufbaus liegende Wirkung gesetzgebender Gewalt.

Unter solchen Umständen wird man über den Inhalt der Gesetze nur mit Vorsicht und nur vereinzelte Leitsätze aufstellen können.

Dass Gesetze nicht ab irato erlassen werden, begreift sich wohl. Das hat aber nichts mit einer Ablehnung von sog. Ausnahmegesetzen schlechthin zu tun.

Einen Eingriff in die Vermögensstellung des einzelnen, in sogenannte „wohlerworbene Rechte“ betrachtet man nicht günstig, und man wird aus Gründen der Billigkeit für den Verlust oder die Beschränkung der Erwerbsmöglichkeit infolge eines Gesetzes eine Geldentschädigung eintreten lassen.[3] Dies ist bei der Einschränkung des Betriebs der Privatposten und letztens wieder mit der Novelle zum Tabaksteuergesetz vom 15. Juli 1909 (R G.Bl. 705) zugunsten der infolge des Gesetzes arbeitslos gewordenen Hausgewerbetreibenden und Arbeiter anerkannt worden, nicht dagegen bei der einschneidenden Monopolisierung der Lebensversicherung in Italien.

Die Wirkung des Gesetzes soll sich eben nur in die Zukunft erstrecken. Gesetze mit rückwirkender Kraft[4] untergraben das Vertrauen in die Stetigkeit der durch die Gesetzgebung geschaffenen Rechtslage. In einzelnen Staaten, wie in den Vereinigten Staaten von Amerika und Norwegen, sind sie durch die Verfassung geradezu verboten. Doch übersieht solch ein allgemeines Verbot über der Fülle des Normalen den Notfall. Das Prinzip darf nicht zum Hemmnis werden, um schweren Missständen zu begegnen, deren Abhilfe das öffentliche Gewissen erfordert (Sklaverei), unter Umständen auch um ein Andrängen der öffentlichen Meinung (Wiederaufnahme des Verfahrens bei der Beamtendisziplin) zu befriedigen, natürlich auch im Falle einer authentischen Auslegung, um das Gesetz selbst in seinem richtigen Bestande zu sichern. Kein Gegenstand ist der Möglichkeit rückwirkender Regelung entzogen, auch nicht die Finanzgesetzgebung, wiewohl hier die Interessenlage den schärfsten Widerstand entfacht (z. B. die Zollverordnungen in den Kolonien mit rückwirkender Kraft); denn auch sie kann sehr wohl im Interesse der Allgemeinheit


  1. Hierher kann man auch die „Assimilationsgesetzgebung“ rechnen, die Frankreich gegen seine Kolonien anwendet.
  2. Drucksache des Reichstags 13. Leg.-Periode, I. Session 1912/13 Nr. 1002.
  3. Der Punkt ist lebhaft bestritten; vgl. jetzt Otto Mayer „Entschädigungspflicht des Staates“ im Wörterbuch des Staats- und Verwaltungsrechts 2 I 1911 S. 731.
  4. Ausführungen und Literatur bei O. Gierke, Deutsches Privatrecht I 1895 §§ 23, 24, Fleiner, Institutionen des Verwaltungsrechts, 2. Aufl. 1912 S. 85.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 287. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/307&oldid=- (Version vom 27.12.2021)